Schattenbefehl

Schattenbefehl

Info: Ein altes Projekt, das ich vor kurzem “abgeschlossen” habe.

“Die Schatten, die Schatten, sie sind überall. Die Schatten!”

Seine Stimme nur noch ein Flüstern, unhörbar hinter dickem Glas, das die Aussenwelt von ihm abhielt, das ihn in Sicherheit wiegte wie eine Wand in einem Haus voller Türen, halb offen, mit Augen in jedem Schatten dahinter. “Die Schatten!”

Er keuchte. Füsse, die an ihn heranrutschten, Atem, der nur aus Kälte zu bestehen schien. “Bist du auch ein Schatten?”, fragte er die Gestalt, die sich vor ihm materialisierte, sich zusammensetzte, als würde sie aus vielen einzelnen Punkten bestehen, nur zu einem Zweck.

“Nein, schlimmer” antwortete ich, dann fuhr meine Hand an seinen Hals.

==

Sie will mich im Museum treffen. Sie mag das Zeug dort. Es ist kein normales Museum, mit toten Tieren, sondern ein Kunstmuseum. Sehen Sie, wie ich zittere? vor Begeisterung? Nein, das war gelogen. Sorry. Es geht eher in Richtung: “Schau mich an, ich steh auf Kunst!” Aber sie hat Recht. Sie ist, wie man so schön sagt “Mucho intelligente” oder in der Art. Ich mag eher die einfachen Sachen, Cartoons, Fussball, Eishockey und Actionfilme.

Zurück zum Museum. Ich weiss auch nicht, was sie daran begeistert. Kann sein, dass irgendwelche Bilder irgendwelche Sachen bei ihr auslösen, schlechte Erinnerungen, die sie sonst verdrängen würde. Dass sie sich mit mir abgibt, hat mich am Anfang etwas gestört, aber ich bin noch immer glücklich, dass sie mich erwählt hat. Neben meinem guten Aussehen habe ich auch noch andere Vorzüge: Ich lausche jedem ihrer Worte und befolge ihre Befehle.

==

“Suprematismus. Totale Kunst.” sagt sie, als ich neben sie trete, während sie sich irgendein Teil anschaut, das nur aus Dreiecken, Vierecken und hier und da einem Kreuz besteht. Ich versuche gar nicht erst, sie zu verstehen, nicke aber aus Höflichkeit und weil sie mich nun anschaut wie eine Katze, deren Napf leer ist. Ich bin dann der nette Nachbar, der 2 Tage zu spät in die Wohnung kommt und als Erlöserfigur in die Geschichte der Katzenwelt eingehen wird, wenn sie überlebt. Sie wird überleben, meine Freundin meine ich.

“Du bist spät.”

Sie atmet schwer, als würde ihr das Bild alle Kraft aus den Gliedern saugen. Leider stimmt das, denn sie ist eine sensible Persönlichkeit und ich bin ihr Energielieferant, den sie zu sich bestellt, weil sie die Einsamkeit ihrer Wohnung und die Kunst, der sie sich aussetzt, vertrocknen lässt.

“Meine kleine Blume” flüstere ich.

Sie starrt noch immer auf das Gemälde.

“Ich freue mich so sehr, dass du ihn erwischt hast.” Ihre Augen sind leer, als sie mich anblickt, als wäre ich aus Glas.

“Es war einfach, wie immer” ist meine Reaktion. “Die Schatten hatten ihn seit einer Woche in der Mangel und ich war dann nur noch der, der den Sack zugemacht hat.”

“Unterschätz dich mal nicht, nicht jeder kann einfach so ein Leben auslöschen.” Sie seufzt. “Ich bin stolz auf dich.” Mich kümmert das nicht, denn das sagt sie jedes Mal zu mir, wenn ich nach einer ihrer speziellen Bitte wieder vor sie trete. Ich vermute, ich bin zu simpel, um zu bemerken, dass sie mich ausnutzt.

“Ich habe einen neuen Auftrag für dich.” Sie greift in ihre Hosentasche und zieht eine Karte hervor, einen Kreuz-Bube. “Folge dem Zeichen und du wirst ihn finden. Er verdient den Tod.” Sie geht, verschwindet wie einer der Schatten, die sich um die Seelen der Verurteilten scharen, bis ich komme und sie zusammenführe, bis der Geist des Toten selbst einer der Sklaven der Finsternis wird.

==

“K.P., Siegesheimer Straße 15.”

Die Adresse ist weiter weg als üblich, als würde ein Zirkel den Kreis meiner Aufgaben immer weiter nach außen rücken. Wenn es Muster gibt, dann sind sie zu verworren, um mich zu finden, es gibt keinen Zusammenhang zwischen Tat und Motiv, keinen Zusammenhang zwischen den Todesarten, zumindest nicht auf den ersten Blick. Sie, meine Freundin, gibt mir vor, wie ich zu arbeiten habe, zeigt mir das Mittel der Auslöschung. Der letzte, dessen Namen ich nie kennenlernen werde, starb ächzend wie ein ausgetrockneter Rucksack in der untergehenden Sonne nach den Schulferien, denn die Quelle wünschte es so. “Erwürge ihn!” stand auf der Karte und ich folgte dem Ruf. Seine Augen brachen mit dem Hauch der Erkenntnis, die in jeder meiner Hinrichtung folgt, das Wissen, dass alles zusammenpasst, alles seit einer schicksalhaften Begegnung auf dieses Ende hinarbeitete, auch wenn man es verdrängt hatte.

==

“Feuer”

Ich sitze an einem Tisch und sammle meine Gedanken, verknüpfe sie mit meinen Erfahrungen, Bewegungen und Gefühlen, die ich bei meinem letzten Auftrag, der mit diesem Höllen-Element zusammenhängt, erlebte. Es gibt keine Frage, er verdient es.

Eine Stimme schreckt mich auf und ich schaue von dem Blatt Papier, das unbeschrieben vor mir liegt auf, vorbei an der halbleeren Tasse kalten Kaffees, hinauf, an Menschen vorbei, in ein Gesicht.

“Wie bitte?” frage ich.

“Sind Sie nicht Nathaniel Borew, der… Haben Sie nicht ‘Viktor und das verbotene Bücherregal’ geschrieben und die anderen… Viktor-Bücher?” Ihre Stimme klingt jung und ihr Gesicht bestätigt das, wenn gleich auch ihre aufgerissenen Augen sie jünger wirken lassen, als sie vermutlich ist.

Ich nicke. “Äh… hmm… kann sein.”

Sie grinst. “Wow, dass Sie hier sind, ich meine, in unserer Stadt, in diesem Cafe, wo ich sonst immer Kaffeetrinken gehe, äh…” Sie scheint aus dem Konzept zu kommen. Ich kenne das.

“Ich bin auf der Durchreise, für eine Art Projekt.” Das ist meine Standard-Ausrede für solche Begegnungen.

“Ich bin ein ganz großer Fan!” Sie grinst. “Und meine Kinder auch!”

Oh, hmm, gut.

“Darf ich um ein Autogramm bitten, wenn Sie nichts dagegen haben?”

Wie immer reagiere ich professionell. “Ich habe leider kein Buch dabei… zum Signieren, meine ich.”

Sie beginnt zu kichern. “Nicht doch, aber Sie haben doch Papier vor sich, ich meine…”

Meine Hände drücken das Blatt vor mir in den Tisch. “Das ist Arbeitsmaterial, heilig, gesegnet, bis es gefüllt ist.”

Sie kichert schon wieder. “Dann will ich Sie mal nicht von Ihrem Aberglauben abhalten.” Ihre Augenbrauen heben sich sichtbar, als ich eine Serviette mit meinen Zeichen bemale und ihr überreiche. “Grüßen Sie Ihre Familie von mir.”

Sie nimmt es vorsichtig in die Hand, hebt es hoch, als würde es gleich davonfliegen, außerhalb ihrer Reichweite und vielleicht bei einer Nachbarin landen, die sie nicht leiden kann.

“Seien Sie vorsichtig, vielleicht ist das der einzige Nachweis meiner Existenz, in 200 Jahren.”

Sie schreckt auf. Als sie meinen Witz endlich begreift, lacht sie auf und lässt die Blicke der Leute um uns herum ein Ziel suchen, mich an einem billigen Tisch, umgeben von ungenutzten Stühlen, eine Tasse Kaffee in der Mitte, verzweifelt fröhlich und eine Frau, die sich eine Serviette an die Brust drückt, wie ein Kind.

“Ich habe gelogen”, sagt sie. Ihr Flüstern geht im Rauschen des Erkennens unter. “Ich habe gar keine Kinder. Aber Ihre Bücher sind toll, grandios, großartig!” Sie wirbelt herum und rennt davon. An der Ecke bleibt sie stehen, dreht sich in Zeitlupe zu mir um. Ich winke freundlich, höre ihr Kichern verhallen, dann ist sie fort.

Die Augen der anderen Gäste des Cafes versinken wieder in ihren Zeitungen, ineinander oder im Rühren des schalen Kaffees in den Tassen vor ihnen. “Feuer” steht noch immer auf der Karte, die ich in den Tisch gepresst habe, die sie nicht gesehen hat, sonst hätte sie sich vielleicht noch mehr gewundert. Sie kennt den Begriff. Sie ist der neue Auftrag, denn ich habe die Schatten gesehen, ihr folgen, zwei winzig kleine Schatten.

==

“Wir müssen reden.” Eine Antwort von der anderen Ende der Leitung bleibt aus. “Es ist nicht…” Ich schweige, gemeinsam mit ihr, denn es ist ihr Teil des Gesprächs, mich aufzumuntern, mir zu sagen, wie gut ich bisher alles gemacht habe, wie stolz sie auf mich ist. Wie so oft warte ich vergeblich.

“Wenn du nicht mehr willst”, lässt sie sich herab, “wirds jemand anders machen. Du weisst, es ist wichtiger als wir beide zusammen.”

“Wo ist die ausgleichende Gerechtigkeit, wenn man sie mal braucht? Die sind wir, Schatz. Hast du die Schatten gesehen?” fragt sie.

Ich lächele still vor mich hin. “Ja, zwei, sie waren klein und liefen hinter ihr her.”

“Feuer. Sie hatte einst zwei Kinder, doch versprach sie einem Mann die Treue, der sie, nur sie allein wollte. Sie inszenierte eine Tragödie, ein Unglück und die Unerwünschten verschwanden aus dieser Welt.”

Ich weiss, warum sie das sagt. Es ist ein Hinweis auf meine Verpflichtung, ihr gegenüber. Wer entscheidet, wer wie stirbt? Doch nur sie. “Ich habe diese Bilder und diese Stimmen in meinem Kopf und sie erzählen mir die Wahrheit über Menschen, die es verdient haben, zu sterben.”

==

Es riecht nach Alkohol im Treppenhaus. Vorsichtig folge ich den geisterhaften Brotkrumen, folge dem Flackern winziger Schritte auf dem Boden, lege meine Ohren an die Holztür, die sich vor mir aufgebaut hat, schwarz wie die Seele, die hinter ihr haust. Ich höre ihre Stimme anschwellen und abebnen, während sie mit sich selbst redet, oder mit jemandem anderen. Der letzte Verurteilte hat über eine Woche lang seine Schatten gesehen, Schatten, die ihm aus dem Nichts zwischen Leben und Tod folgten, ihn darauf vorbereiteten, seinem Schicksal entgegenzutreten. Vielleicht war sein Daheinscheiden durch meine Hände ein Segen.

Die Tür springt auf und heraus rennt ein kleiner Junge, kaum mehr als 5 Jahre alt, einen Ball in der Hand. Fixiert auf sein Spielzeug, sieht er mich nicht, rennt vorbei, als würde ich nicht existieren. Ihr Gesicht erscheint im Türrahmen. “Lauf nicht so schnell! Wir wollen doch nicht, dass dir etwas passiert!” Sie erblickt mich und schreckt zurück. “Sie? Was tun Sie denn hier?”

Ich setze mein bestes Allerweltlächeln auf. “Sagten Sie nicht, sie hätten keine Kinder?”

Sie nickt verwirrt, dann verzieht sich ihr Gesicht. “Ich habe Sie schon einmal gefragt, was Sie hier tun!” Ich hebe entschuldigend die Hände. “Ich war zu Besuch bei einer Bekannten und bin rein zufällig hier gelandet.”

Ihre Augen ziehen sich zusammen, fixieren mich, dann nickt sie. “Ich wohne hier und ja, das ist mein Sohn.” Sie dreht sich um und verschwindet in der Küche. “Wenn Sie schonmal hier sind, können Sie auch einen echten Kaffee mit mir trinken.” ruft sie mir zu. Ich schließe die Tür hinter mir.

==

“Was haben Sie in der Wohnung gemacht?” Die Frage taucht hinter einem Vorhang auf und im Flattern des Stoffes verschwindet sie wieder. Graue Bilder entzünden sich in meiner Fantasie und verbrennen zu Asche, noch bevor ich sie erkennen kann. Verbrennen in einem Feuer, das aus meiner Hand zu stammen scheint, wenn ich genau genug hinschaue. Flammen, die aus meiner Haut dringen und die Welt um mich herum in Brand setzen, das Unreine läutern, das Gute zurücklassen.

“Was haben Sie in der Wohnung gemacht?” Unfähig, diese Frage zu beantworten, schüttele ich den Kopf. Auch das fällt mir schwer. Ich fühle mich von Kopf bis Fuss eingepackt in eine Art Gel, Beton, in Stein, was auch immer. “Ääh” stöhnt meine Stimme, seufzt sich einen Weg aus meinem Bewusstsein in die Welt hinaus.

“Sehen Sie nicht, dass Sie ihn aufregen?” fragt eine andere, vernünftigere Stimme und die erste grunzt verneinend. “Er muss sich diesen Fragen stellen, immerhin hat er den Brand überlebt, nicht wie diese Frau.” Ein Schatten drängt sich vor mich, überlagert die blauschimmernden Wände, die mich bisher eingeschlossen haben.

“Hallo? Sind Sie da drin?”

Ein Finger bohrt sich in meine Haut und ich fühle die Erinnerung des Brennens, das ich verdrängt zu haben meinte. Ich grunze.

Der Finger lacht. “Sehen Sie, er ist wach!” Hände packen zu und zerren ihn weg. “Das ist Polizeibrutalität, das lasse ich nicht zu! Ich verklag sie!” Sie ist es. Mein Herz jubelt vorsichtig, als wäre dies nur ein Traum und ich an der Schwelle des Augenblicks, wenn der Wecker beginnen würde zu klingeln.

“Es ist ein Mörder!”

“Das wissen Sie doch gar nicht!” Sie ist meine Löwin, kämpft um mich und ich beginne zu schluchzen. Jede Träne brennt sich einen Weg durch meine Augenlider nach draußen und hinterlässt in meiner Wange das Gefühl, als würde der kleine Tropfen Wasser aus Säure bestehen. Irgendwo in meinem Hinterkopf formt sich ein Gedanke, der, dass ich irgendetwas schlimmes gemacht habe, doch ich kann mich nicht erinnern, kann nichts finden, das ein Bild erzeugen würde, denn meine Vergangenheit ist blicklos finster.

Und dann schaue ich mich um und ich sehe Schatten, jede Menge Schatten, große und kleine Schatten, die die Wirklichkeit überlagern. Sie bewegen sich mit mir, mit meinen Augen, als habe sie jemand in meine Netzhaut eingebrannt, aber sie sind keine Muster, sondern echte Schatten, tote Wesen, die mich schweigend anstarren.

“Sie hat überlebt”, flüstert mir die Frau zu, die ich als Freundin betrachte, die junge Frau, die mich auserwählt hat. Auserwählt ja. Den Toten ist es offenkundig gleich, wer sie von ihrer Existenz befreit, Tote brauchen sicherlich keine Rache, sonst wären sie nicht hier. “Sie hat überlebt.”

“Ich konnte das nicht tun, konnte das Feuer nicht …” Ich stoppe, fühle, wie der Atem aus meinem Kopf gezogen wird.

Sie nickt, versteht mich. Ihr Gesicht gleitet an mein Ohr, ihre Lippen berühren die dünne Haut an meiner Schläfe. “Das passiert euch immer wieder. Ihr habt nicht den Mut, bis zum Ende zu gehen, alles für die Gerechtigkeit einzusetzen.”

“Das ist Rache, keine Gerechtigkeit.”

“Ja, den Spruch höre ich oft genug. Es war eine gute Zeit mit dir. Doch nun bist du nichts mehr wert.”

Sie steht auf, wendet sich von mir ab, wandert zu den Männern in Uniform hinüber und berührt einen von ihnen, dessen Finger ich in meiner Haut spürte. Er blickt auf sie herunter. Sie zieht eine Karte aus ihrer Handtasche, eine Karte voller Dreiecke, Vierecke und mit einigen Kreuzen.

Dann blickt sie mich noch einmal an, legt ihren Kopf schief und verschwindet in der rauchverhangenen Dämmerung.

Ich bin allein.

Die Schatten kommen näher.

Kommentare sind geschlossen.