Wolf – Eine verlorene Novelle

Wolf – Eine verlorene Novelle

Vielleicht ist diese Geschichte erfunden und ich wurde von ihr inspiriert – durch eine andere Geschichte, durch eine Geschichte, die der große K.E. Wagner wiedergab, damals, vor vielen Jahren, eine Geschichte, die … fangen wir an.

Es war Ende des Jahres 1944. Die Welt hing im Krieg fest – und ich in einem kleinen französischen Dorf tief in den Wäldern, ich glaube, es waren die Vogesen. Es war Krieg und die meisten anderen Dörfer der Umgebung lagen brach. Der Wald hatte begonnen, sich das wiederzuholen, was Menschen in den vielhundert Jahren der Zivilisation freigelegt hatten.

Ach könnte ich doch die Stimmung dieser Zeit wieder aufleben lassen. Ich war damals jung, vielleicht 42 oder 47 Jahre alt. Dort, inmitten des Dickichts schien mein Alter unwichtiger zu sein, unscheinbar, geradezu winzig vor den alten Bäumen, deren schwarze Rinden dem Geschichten erzählen wollten, der sie lesen konnte.

Ich war damals ein Reporter, war von meiner Zeitung, einem kleinen Blatt aus Montreal, nach Europa geschickt worden, kurz bevor der Krieg ausgebrochen war. Ich war gerne hier gewesen, hatte die Hauptstädte gesehen, doch der Krieg, der über unsere Köpfe hinwegrollte, hatte alles Gute davongetragen, alle Freude in langsames Dahinvegetieren verwandelt. Und seit einem halben Jahr lebte ich hier, in diesem Dorf.

Ich lasse bewusst den Namen des Orts verschwinden. Vielleicht gibt es Nachkommen der missmutigen Gesichter, die mich jeden Abend in der einzigen Kneipe anstarrten, als wäre ich noch immer ein Fremder – und ich war auch einer. Mein Französisch, inspiriert von den großen Städten und den Lehrbüchern, war ihnen fremd und ich musste mit Händen und Füßen gegen ihr Misstrauen ankämpfen.

Immer wieder trafen kleine Gruppen von Fremden ein, Fremde in Uniformen, zerrissen, blutig, nicht die eigenen, abgerissene Totenköpfe und Hakenkreuze hinterließen Löcher. Eilige Worte wurden gewechselt, dann verschwanden sie wieder.

Wer länger blieb, blieb nur da wegen Isabelle.

Isabelle. Die Tochter des Wirtes. Jung, blond, vielleicht 17 oder 20 Jahre alt, wie ich schon sagte, das Alter war unwichtig hier. Eingehüllt von den schwarzen Wipfeln der gigantischen Bäumen flog die Zeit über unseren Köpfen hinweg und verschwand dort, wo sie am meisten Schaden anrichten würde. Ganz das Gegenstück ihres Vaters, der vor Jahren zur See gefahren war und dessen Arme die vertrauten blauen Muster seemännischer Tättowierkunst zeigten.

Isabelle hatte einen Narren an mir gefressen, zumindest bedachten mich ihre blauen Augen mit Freude, während sie sich ein Schwall blonder Haare aus dem Gesicht strich. Sie war der Grund, wieso ich noch immer hier leben konnte.

Manchmal durfte ich für die Bauern der Umgebung Holz hacken oder einen Brief aufsetzen oder helfen, eine tiefgewachsene Wurzel aus dem feuchten Boden zu zerren, unterstützt von den zwei oder drei Schindmären, welche nicht annektiert worden waren.

Doch die Aufträge kamen seltener. Auch erreichten seltener Bauern ferner Höfe und anderer Dörfer den Frieden unserer kleinen Ortschaft.

Auf meine Frage hin, was geschah, zuckten die Einheimischen mit den Schultern, sprachen von Wölfen oder von deutschen Deserteuren, die sich nur im Dunkeln aus den Tiefen des ewigen Waldes trauten.

Bald würde ich wirklich arm sein. Mein einziger Trost war ein Silberdollar, den mir mein Vater mitgegeben hatte, ein Glücksbringer, wie er damals meinte. Vermutlich war er schon der Meinung, dass ich tot sei und das würde ihm sicher das Herz gebrochen haben, aber ich lebte und ich lebte von den Augenblicken, in denen sich meine Augen im Silber spiegelten oder in den Augen Isabelles.

Aber es kam nie so weit wie man sich jetzt denken würde. Ihr Vater, der Wirt, war ein Habicht, wenn es um sie ging. Ihre Mutter war vor ein paar Jahren an Tuberkulose gestorben und Isabelle und das Wirtshaus waren die einzigen Dinge, die ihm etwas wert zu sein schienen.

Ich schlief dort, in einer Kammer, in dem die Tage finsterer schienen als die Nächte, auch wenn die Wipfel nur wenige Dutzend Schritte entfernt schliefen … warteten.

Als man mich bat, oder damit beauftragte, den Hof der Clemonts zu besuchen, war ich überrascht. Der Auftrag kam über einen Brief der Tochter Clemont, die derzeit in Marseille lebte. Sie hatte von ihrer Familie, ihrem Vater und ihren zwei Brüdern, nichts mehr gehört. In Friedenszeiten war die Familie bekannt gewesen, hatte eine Lizenz zur Rodung und zum Transport von Holz, ein königliches Privileg aus alten Zeiten und sie hatten bisher immer Geld geschickt. Trotz Krieg. Trotz Hunger.

Ich erinnerte mich, die Familie besucht zu haben. Es war Sommer gewesen, der letzte Sommer sogar. Jetzt, Anfang Februar, wirkte der Sommer endlos weit entfernt. Sie waren zu fünft auf dem Hof, Vater, Brüder, eine Haushälterin und ein offenkundig deprimierter junger Mann ohne Namen. Er wäre ein Hilfsarbeiter, hatte man mir gesagt. Aber an Hilfe konnte ich nicht viel feststellen, als ich half, ein Dutzend Baumstämme mit den drei verbliebenen Holzfällern auf vier Wagen zu laden. Der Krieg frisst immer die starken und jungen Leute zuerst.

Ich ging nicht allein. Die Wälder sind im Winter noch gefährlicher als sonst. Manch einer rutscht aus und rast einen Abhang hinunter, kracht gegen einen Baum, bricht sich ein Bein und dann kommen die Wölfe.

Mit mir ging der alte George, wir beide waren ersetzbare Gestalten. George war ein Trinker und Spieler, vielleicht doppelt so alt wie ich, sah aber aus, als habe er alle Kriege der letzten Jahrzehnte mitgenommen. Dafür hatte er ein Gewehr, eine doppelläufige Flinte, die er laut eigener Aussage gegen Bären und Raubvögel einsetzte, doch seit langem nicht mehr, weil es die verdammten Deutschen anlocken würde.

Ich konnte fühlen, dass etwas anders war als sonst. Der Wald wirkte verschlossener, fast schon ängstlich. Ich höre die Zweige gegen die Stille ankämpfen, die sich über uns hinweg ausbreitete wie ein schwarzes Tuch über eine Leiche. Der Schnee hing an den Rändern des Weges, über den wir wanderten. Mir schien es, als würde er uns anflehen, nicht das Dickicht zu betreten, in dem Dinge warteten, Wesen, die wir schon lange vergessen hatten. Jeder Schatten erinnerte mich an einen Alptraum und nur das ständige Gestammel des alten George, das mich an ein Gebet erinnerte, erlaubte mir, wachzubleiben.

Eigentlich lag der Hof der Clemonts nur zwei Meilen vom Dorf entfernt, aber als wir endlich ankamen, erinnerte es mich an einen Sprung in eine fremde Welt.

Das große Haupthaus hing wie eine fette Hand über dem Hof, sein Schatten war dunkler als die Dämmerung, schwarz von Zeit und Raum. Eine dicke Wand aus Holz war zum Schutzschild mutiert, das auch zwei kleinere Häuser und Schuppen einschloss, die ich erst sehen konnte, als wir das Tor sahen. Das Tor stand offen.

Das war nicht ungewöhnlich, aber aus dem Schornstein hätte Rauch dringen sollen ähnlich Stimmen, Befehlen, doch die einzigen Geräusche, die ich hörte, waren unsere Stiefel und hastige Worte Georges, die wohl ein altes Gebet waren. Er packte meine Hand und zerrte mich an sich heran.

„Verflucht“, murmelte er.

„Ach“, hörte ich mich selbst knirschen. „Sicher sind sie im Wald.“

Ich zerrte meine Hand aus der seinen und stampfte zum Tor hinüber. Noch immer hing Schweigen über der Landschaft.

Als ich ins Innere des Hofs blickte, war mir klar, dass hier seit längerer Zeit niemand mehr etwas getan hatte, vermutlich Wochen schon. Der Schnee hatte sich hier ausgebreitet, war nicht nur gefallen, sondern förmlich gewachsen, wie eine Krankheit, die jede Zelle des Körpers verdrängte, bis am Ende nur noch Schmerz und Tod existierte.

Der Schnee reichte hier bis zu meinen Knien, eine endlose Fläche von weißen Wellen, ein Meer aus Stille.

Ich rief einmal, zweimal Clemonts Namen, aber niemand antwortete.

Leichter Wind kam auf, ließ den Schnee davonrollen. Ein lauter Schlag schoss an mir vorbei. Ich fiel fast nach hinten, doch als ich mich umblickte, war es die Tür des großen Hauses, die umherschwang, als wollte sie mich anlocken – oder fernhalten.

Georges Worte waren nähergekommen, der alte Mann hatte sich offensichtlich endlich getraut, auch den Hof zu betreten, allein auf der Fläche wäre er sicher davongerannt.

Wieder schlug die Tür zu, kroch langsam wieder auf, ein Mund, der dabei ist, etwas zu kauen.

Als ich nähertrat, bemerkte ich etwas graues, dort, im Spalt zwischen Tür und Türrahmen, grau und klein und tot. Eine Hand.

Ich will nicht behaupten, dass ich ängstlich bin, aber in diesem Augenblick blieb mir das Herz stehen, gleichzeitig raste mein Puls in Höhen, die ich nie zuvor erlebt hatte, nicht während der Kämpfe, die ich vor Jahren in Spanien miterlebt hatte, nicht, während ich Freunde hatte sterben sehen, das wirkte noch surrealer als sonst und ich wusste nun wieder, wieso ich hierher geflüchtet war, in diese Einsamkeit: Der Tod konnte mich hier nicht erreichen.

Doch nun war er da, der Tod und die graue Hand hing dort vor mir und ich musste nähertreten, als wäre ich eine Motte und der Tod wäre mein Licht.

George blieb zurück, bekreuzigte sich immer und immer wieder und betete, als ob ihm wirklich jemand zuhören würde.

Zur Hand gehörte ein Arm, doch als ich diesem folgte, fand ich nichts mehr vor, nur Fetzen eines abgerissenen Oberarms, von der Zeit und von Eis fixiert, als würde er genau auf mich warten.

Eine dunkle Spur, die noch immer dumpf nach Kupfer roch, kroch über den Flur und verschwand im Hauptraum, in der Küche. Ich folgte ihr. Hier wurde der Geruch drängender, lebendiger. Und dann sah ich das Bild.

Stunden später, als ob die Zeit irrelevant geworden wäre, saß ich im Wirtshaus, starrte in ein Glas billigen Rotweins, versuchte, die anderen drei leeren Gläser zu ignorieren, die mich genauso anstarrten wie die Augen der anderen Gäste und des Wirts und besonders Isabellas, die so hell leuchteten, dass ich fast vergessen konnte, was ich gesehen hatte.

Jemand hatte die Clemonts umgebracht, aber es war kein Mensch gewesen. Kein Mensch würde so etwas tun. Zerfetzte Körper hingen in den Fenstern. Knochen ragten aus dem toten Fleisch, zersplittert von riesigen Zähnen, die in einem Maul stecken mussten, das mehr Kraft zu haben schien als das eines Krokodils. Einige Haare hingen noch auf den zermalmten Schädeln und so konnte ich Clemont erkennen, nur durch seine früher lustige Frisur, die nun auf einem zerfressenen Kopf dahinschwebte. Seine Söhne waren bei ihm, aber auch sie waren tot. Ihre Leiber waren aufgerissen worden, jemand hatte sich ihrer Innereien bemächtigt, aber auch Arme und Beine waren von mächtigen Mäulern zerfetzt worden. Wölfe. Aber Wölfe, die größer sein mussten, als ich es je gesehen hatte. Aber wie waren sie hierhergekommen? Hatte jemand das Tor und die Türen offengelassen, einfach so?

All das erzeugte laute Gespräche unter den Leuten, Gespräche, die zum Streit wurden. Rotweingetränkte Flüche wurden abgefeuert, Fäuste wurden gehoben, bis der Wirt endlich für Ordnung sorgte, indem er allen eine lebenslange Verbannung androhte. Man sprach nun davon, den Hof der Clemonts anzuzünden, um das Geschehen zu verdecken, andere wollten die Polizei rufen, aber dies wurde belacht, denn die Deutschen hingen über der Grand Nation wie ein sterbender Adler und die Polizei würde sicherlich andere Dinge tun als ein Rudel Wölfe zu jagen.

Jemand stellte die Frage, ob die Clemonts Teufelsanbeter gewesen waren und eines Nachts Satan selbst erschienen war, um gewisse Versprechen einzulösen. Nach längerem Schweign wurde dies als Möglichkeit akzeptiert, aber genausogut konnte es ein Rudel Untoter sein, die von den Schlachtfeldern zurück in die Heimat wollten und auf dem Weg alles fraßen, was sie finden konnten. Hier wurde nun gelacht, aber auf die bittere Art – jeder hier hatte jemanden verloren.

Man entschloss sich dazu, dass ich Frau Clemont einen Brief schreiben sollte, dass es leider ein Feuer gegeben habe und ihre Familie dies bedauerlicherweise nicht überlebt habe. Der Priester des Dorfs bestätigte, dass er bereit war, drei leere Gräber zu segnen, wenn man ihn dafür bezahlte.

Am nächsten Tag hing eine Wolke aus Rauch über der Stadt und ich konnte den roten Kupferton in der Luft schmecken und das Bild der toten Clemonts tauchte wieder auf. Ich hatte eine Sache nicht erwähnt. Ich weiß nicht, warum. Vermutlich war es unwichtig. Auf dem Tisch hatte eine Schale gelesen und in ihm, ähnlich einem Spiegel, klebte Silber. Und der alte Clemont trug sein Gewehr bei sich und hatte es sogar abgefeuert, aber wohl nicht getroffen, denn dort, an der gegenüberliegenden Wand schimmerte dasselbe Silber wie in der Schale. Ich presste den Silberdollar in meine Handfläche, bis sie blutete.

Die Welt hing weiter über dem Abgrund und ich über dem billigen Wein. Isabella betrachtete mich mit großen Augen, als ob ich ein Held wäre, aber ich war keiner. Wäre ich einer gewesen, hätte ich mit den anderen Krieg gespielt und sicher auch gewonnen. Ich war hier, weil ich wartete. Ich hatte ein Gefühl, ein schlechtes noch dazu. Irgendwo da draußen war ein Rudel Wölfe oder etwas anderes, eine tödlichere Kreatur als der Mensch selbst.

Noch immer krochen hin und wieder Schatten heran und verwandelten sich in Soldaten, an Deserteure, die kaum ein Wort sprachen, die aber ihre Waffen zückten, Nahrung verlangten in einer Sprache, die ich seit Monaten nicht mehr gehört hatte. Sie verschwanden schneller als die Sonne aufgeht, ich wollte nicht wissen, wo sie blieben.

Einzelne Personen blieben aber, einsame Männer in verlotterten Uniformen. Sie blieben wegen der Sicherheit und wegen Isabella.

Einer davon blieb länger als üblich. Sein Name war Jacques und ich kannte ihn, zumindest aus meinen Erinnerungen, aber woher, das wusste ich nicht. Er half den Leuten hier, lächelte oft. Seine Zähne waren der sauberste Teil an ihm, groß und weiß, so dass ich manchmal glaubte, dass er im Schatten selbst verweilte, während er redete. Hin und wieder brachte er aus unbekannter Quelle Fleisch heran, er war ein guter Jäger. Deshalb war er hier und nicht in anderen Teilen des Landes. Er meinte, dass hier noch immer genug Fleisch lebte, um das Dorf zu versorgen, weil es so abgelegen war – und der Wald so wild und weit.

Isabella mochte ihn, mochte ihn sehr. Oft genug sah ich die beiden Hand in Hand auf dem Brunnenrand sitzen. Sie waren das Lebendigste, das die Welt zu bieten hatte – in dieser Zeit. Dann verschwand er wieder und kehrte nach einer Woche zurück, beladen mit Fleisch. Und man aß es sehr gern. Ich auch, auch wenn ich den Geschmack von Wild vermisste, diesen leicht bitteren Geschmack. Es schmeckte mehr nach Hühnchen, aber dafür waren die Brocken zu groß.

Bald war es Sommer, dann wieder Herbst. Die Welt rollte durch den endlosen Raum. Gerüchte machten die Runde, dass eine große Offensive von Westen her startete, eine Gemeinschaft der Länder, eine Zange, die den großen Kriegstreiber mit dem Schnauzbart und seine Gestalten in die Knie zwingen würden. Hier im Dorf war das jedoch weniger wichtig, wichtiger war, dass Jacques und Isabella ein Paar waren und diese planten, bald zu heiraten. Manch einer flüsterte hinter vorgehaltener Hand, dass der junge mittellose Mann nur das Wirtshaus haben wollte, aber diese Gerüchte wurden schnell beiseite gelegt, denn seine Liebe für die junge Frau schien wahr zu sein und Früchte zu tragen. Und das Dorf mochte ihn.

Dann verschwand der Wirt. Einfach so. An einem Abend stand er noch an der Tür und betrachtete die Wälder. Am Morgen war er verschwunden. Einige meinten, er wäre geflohen, weil er den falschen Leuten Unterschlupf gewährt hatte, andere sagten, er selbst wäre ein Nazi und von der Résistance abgefangen worden.

Wir suchten ihn, durchsuchten auch die Hütten in der Nähe. Ich wanderte sogar bis zum Hof der toten Clemonts, aber dort war nichts zu sehen, nur den verbrannten Verfall dieser stattlichen Behausung.

Und da fiel mir ein, wo ich Jacques schon gesehen hatte. Hier, genau hier. Er war bei den Clemonts angestellt gewesen. Der deprimierte Hilfsarbeiter.

„Hier ist er sicher nicht.“

Ich wirbelte herum. Jacques stand einfach dort, an einen Baum gelehnt, während er eine billige Zigarette rauchte. Mein Herz hämmerte in meinem Kopf.

„Und wo dann?“

Er zuckte mit den Schultern. „Hier würde niemand leben, der klug ist. Und Isabellas Vater ist sicher nicht dumm.“

Er drehte sich um und wanderte davon, der Rauch seiner Zigarette hing in meiner Nase, bis ich im Dorf zurück war.

Man begann, mir zu misstrauen. Wieder einmal, meine ich. Augen lagen auf mir. Worte wurden gewechselt, die von einem Loup-garou sprachen, einem Gestaltwandler, ähnlich dem Werwolf. Doch die Stimmen wurden leiser und leiser, weil die Leute, die sie aussprachen, verstummten. Auch sie verschwanden irgendwie, hinterließen Briefe, die wenig sagten, Briefe mit ähnlicher Handschrift.

Am Tag der Hochzeit waren kaum Leute in der Kirche, vielleicht zwanzig. Heisere Gebete wurden an die rußgeschwärzte Decke des Gebäudes geworfen, unter dem sich Isabella und Jacques eingefunden hatten, um den Bund für das Leben einzugehen. Isabella hatte mich gebeten, sie zum Altar zu führen, die Rolle ihres Vaters auszufüllen. Es wäre mir eine Ehre gewesen, aber ich war mit anderen Gedanken beschäftigt. Der Pfarrer, der wie alle anderen im Moment nur ein Bettler ohne Hof und Land war, sprach die heiligen Worte, schwang das Ritual in die Höhe des Himmels hinauf und es fiel zurück und blieb auf den bleichen Gesichtern des Brautpaares liegen.

Als es vorbei war, lud man die Anwesenden zu einem Mahl im Wirtshaus ein. Jacques war wieder jagen gegangen und nun gab es Fleisch und Wurst und Brot und Wein aus der Tiefe des Kellers. Isabella sah glücklich aus, glücklich und traurig zur selben Zeit. Als sie sich entschuldigte und das Haus verließ, folgte ich ihr.

„Mein Vater …“, murmelte sie.

„Er wäre sicher gerne heute hier“, antwortete ich ihr, während ich in die Ferne blickte.

„Ich glaube nicht. Er mochte Jacques nicht. Er hatte ein … wie sagt man … schlechtes Gefühl. Er sagte, Jacques wäre mir nicht treu.“

Ich blickte sie an. Ihre Augen glitzerten.

„Es gibt einen Brauch bei uns in Amerika“, sagte ich und zog meinen Silberdollar aus der Tasche, hielt ihn hoch, so dass er die Dämmerung widerspiegelte. „Wir legen eine Silbermünze auf die Zunge des anderen und machen ihn damit klug und wahr.“

„Ist das so?“, fragte sie mich.

„Naja, es ist ein Brauch. Ich kann nicht sagen, ob es funktioniert. Nimm die Münze, es ist ein Geschenk.“

Sie umarmte mich und presste mir ihre Lippen auf die Wange.

Als wir zurückkamen, erwartete uns Jacques. Seine Augen glänzten, während er seine Hände ausbreitete. „Esst und trinkt. Denn morgen sind wir tot!“, rief er.

Und niemand ließ sich davon abhalten.

Ich konnte sehen, wie Isabella Wein in zwei Gläser goss und eine silberne Münze über ihre Hand glitt.

Ich ließ meinen Blick auf das Fleisch fallen, den Schinken, doch da war Dreck auf einem der Schinken, dort unterhalb des Salzes. Ich kratzte das Salz weg.

Hob meinen Blick.

Das Brautpaar trank.

Jacques trank.

Schluckte.

Verschluckte sich.

Bebte.

Riss seine Augen auf.

Blut schoss aus seinem Mund, besprühte Fleisch und Fleisch und Brot und seine Braut.

Sein Körper begann, sich zu verändern, begann zu wachsen und gleichzeitig zu schrumpfen. Muskeln bäumten sich auf und erloschen wieder. Blut, immer mehr Blut!

Blut bespritzte mich, ich wandte mich ab, blickte zum Schinken, dessen Außenseite den Abdruck blauer Zeichnungen trug, Zeichnungen, die der Wirt auf Armen und Beinen und sicherlich noch anderen Körperteilen besessen hatte.

Isabella schrie. Jacques schrie noch lauter, tiefer, heftiger. Jacques kreischte, während sich eine silberne Öffnung in einem Brustkorb bildete, aus dem kochendes Fleisch schoss.

Dann war es vorbei, einfach so. Und ich hielt die Münze wieder in meiner Hand, einfach so. Vielleicht hatte ich zu viel getan, hatte die Menschen ihrer Hoffnung beraubt, zu überleben. Hatten sie gewusst, dass Jacques ein Werwolf war? Waren sie nur dankbar gewesen, dass er sie am Leben gelassen und versorgt hatte?

Ich kann es nicht mehr sagen. Ich weiß nur, dass man mich des Dorfs verwies, dass man meine Habseligkeiten und mich direkt hinter dem verblichenen Ortsschild absetzte, dass mir Isabella ihre kalte Hand an die heiße Wange legte und sich dann umdrehte und davonwanderte, mit allen anderen. Und dabei dachte ich an ein Rudel Wölfe, das den Alpha verloren hatte und nun überleben musste, doch das würde sicher eine andere Geschichte sein, eine Geschichte, die ich nicht mehr erzählen werde.

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