Sein Mars
Es schien, wie daheim zu sein. Als er aufwachte, war da zuerst Licht. Und nach dem Licht, lange danach, als müsse es seine Gunst erringen, erreichten erste Geräusche seinen Verstand. Töne wurden zu Mustern, so wie Licht zu Bildern geformt wurde. Die Geräusche und Bilder, die Muster, die sich in die Tiefe in seinem Kopf stürzten, wurden wirklich.
Wirklich.
Er verdrehte seinen Kopf. Die wenigen Haare auf seinem Hinterkopf kratzten über das Kopfkissen, blieben fast hängen. Doch ihn kümmerte es nicht. Stattdessen starrte er auf die Wand, die so grau-blau erschien, als wäre sie aus Metall und Beton, eine Mischung aus verschwundenen Zeiten, eine Mischung, die eigentlich nicht sein durfte. Die Wände seines Schlafzimmers waren hell, beige, fast schon weiß. Sie waren sonst geschmückt mit wenigen Postern, Bildern seiner Vergangenheit, seiner potentiellen Zukunft.
Ja?
Ja. Er versuchte, sich aufzurichten.
Die Bewegung kam spät genug, um ihn aufmerksam zu machen. Verzögerungen in seinem Alter waren zwar möglich, aber unlogisch. Es musste kontrolliert werden, wie alles hier.
Wo war hier?
Das Zimmer war wenigstens 10 Schritte lang und fast so breit. An drei Seiten, seinem Kopf gegenüber und rechts und links vom Bett, hingen Fenster in den Wänden, so hoch wie zwei Männer. Also so hoch wie er. Er verzog das Gesicht. Er war alt, aber nicht klein.
Er richtete sich weiter auf, ertrug die Unruhe in seinem Kopf, das Zittern in seinen Schultern, die Schwäche seiner Arme. Er war alt genug, um sich das leisten zu können. Aber er … war er wirklich reich?
Er setzte sich auf. Seine Füße hingen wie Lappen an Beinen, die wie fettgewordene Knochen aussahen, gelblich-weiß mit grauen Haaren. Seine Arme erschienen ihm wie Hühnerflügel, schwabbelten umher, als könnten sie fliegen, wenn er sie nur schnell genug bewegte. Sein Hemd – es war lang und weiß, mit blauen Streifen – erinnerte ihn an ein Gefängnis oder ein Krankenhaus. Ja. Krankenhaus. Er war hier, weil er alt war. Aber er sollte nicht hier sein, er sollte …
Er kratzte sich das Gesicht, fühlte die alten Mechaniken unter seiner Kopfhaut, dort, wo man Haare implantiert hatten, vor einiger Zeit schon, weil er nie schön gewesen war, aber dafür reich. Und der Reichtum war nun einmal der Beweis seiner Wahl gewesen. Der Erwählte durfte keine schlechten Haare haben, dünn und kurz. Noch immer war seine Haut so weiß wie damals. Damals.
Er stand auf und ging zu einem der Fenster. Das Glas war schmutzig, fast schon dreckig. Er wischte darüber. Die Welt, die dahinter lag, war nur ein Flimmern davon entfernt, real zu sein. Die weißen Berge in der Ferne erinnerten an seine Heimat, das grüne Feld war gesättigt mit Freude und Strebsamkeit. Schafe und ein einsamer Schäfer wanderten in Pixeln darüber.
Er war nicht daheim. Er war … hier.
„Computer?“, fragte er. Als nichts geschah, fragte er lauter, dann befahl er.
„Computer!“ Er schlug mit der Faust auf das Fenster. Es vibrierte. Wellen rollten über die Landschaft, verzerrten sie, machten sie zum Albtraum, welcher nach wenigen Sekunden zerfiel und eine andere Gegend anzeigte.
„Ja“, flüsterte er. „Hier bin ich daheim.“ Er grinste seinem Spiegelbild zu, welches nur ein Schatten schien, als die Dämmerung sich ausbreitete und die schwarz-rote Landschaft anzeigte, die ihn umhüllte.
„Mars“, flüsterte er. „Ich bin auf dem Mars.“
„Ja“, antwortete die metallene Stimme aus dem Hörer. „Du bist auf dem Mars.“
„Aber wie …?“
„Die übliche Frage. Du bist hier, weil du …“, die Stimme stoppte. Verschiedene knirschende Worte, unverständlich schnell, fast schon binär, aber mit deutlich mehr Fluktuation, folgten aus dem unsichtbaren Lautsprecher.
„Was weißt du?“
„Ich bin der Auserwählte.“
„Ja“, kicherte die Stimme.
„Ich bin ein Mensch. Ich bin reich. Ich habe die Welt regiert, teilweise zumindest. Die Welt war mir nicht genug. Nur gute Gene sollten sich ausbreiten. Der Rest“, der alte Mann blickte zur Seite, „ist nichts.“
„Ist nichts?“
„Ist nichts. War nichts. Ich weiß nicht. Wir sind auf dem Mars.“
„Das Jahr ist 2202. Oder 147 J.M. Marszeit halt.“
„Und wieso bin ich jetzt erst erwacht? Oder habt ihr den Mars gebaut, weil ihr …“
„Immer dieselben Fragen.“ Die Stimme zischte wieder. Andere antworteten ihr.
„Ich will mit dem Verantwortlichen sprechen“, keuchte der Alte. „Ich bin der Herr hier.“
„Sicher. Aber was kannst du?“
„Was ich kann? Wozu?“
Die Stimmen flimmerten. Dann verzog sich das Fenster in den Wänden. Es zeigte sich eine Welt, die an metallene Pilze erinnerte. Sie schienen hunderte Meter hoch zu sein, verzweigten sich in der Höhe, bildeten Schirme. Doch in den Schirmen lag keine Perfektion. Sie wirkten falsch, verschoben, schräg vielleicht, aber auch zu klein oder groß. Viele trugen Löcher oder Wülste, aus denen metallische oder andere Flüssigkeiten strömten, sich verklumpten, Warzen bildeten oder schlimmeres.
„Wozu. Weil …“, die Stimme im Lautsprecher seufzte. „Weil das, was du siehst, dein Problem ist.“
„Mein Problem? Ich habe genug Wissenschaftler und Geld, um alles perfekt zu machen. Ihr habt mich geweckt! Doch aus einem Grund.“
„Ja“, sagte die Stimme. „Aber der Grund ist nicht, dass wir dein … Genie brauchen. Also, okay, wir brauchen es schon, aber in Wirklichkeit ist das mit dem Genius schon lange gelaufen. Hier oben“, die Stimme stoppte, „sind wir allein.“
„Wer seid ihr denn?“ fragte der Alte. „Ihr seid nichts ohne mich!“
„Das … stimmt.“
Das Bild flackerte wieder.
Der Alte taumelte zurück. Doch der Rest von ihm blieb stehen, blieb am Fenster stehen, erstarrt wie eine Puppe. Stattdessen war es das Bewusstsein, das sich hinter dem Wesen verlor. Die Puppe drehte sich um, hob die Arme.
„Du bist ER und du bist dennoch nicht ER. Der, der ER war, der damals, vor fast 150 Jahren die Erde verließ, weil er sie hasste für ihre Schwäche – und weil ihn niemand auf Twitter liebte, so dass er es kaufen musste, der ist hier, in jedem von uns.“
Die Puppe senkte ihre Hände und packte etwas. Der Alte fühlte, wie er nach oben gehoben wurde, doch es wirkte wie ein Traum.
„Seine Gene sind hier. Und sie sind alt. Und wir müssen prüfen, welcher Genius wert ist, mehr zu sein als … das.“
Die Fenster flackerten wieder und aus den Tiefen des Abgrunds, in Hüllen aus Plastik und Metall, starrten den Alten die Augen an, die er nun trug, tausendfach, irre. Die meisten trugen Nadeln oder Werkzeuge, die sie an verschiedene Punkte in der Welt ansetzte, magnetisch befestigt an Karren oder Wänden. Andere rollten nur über den Boden und krachten gegen die anderen, die Augen verzerrt, stumme Schreie der Erkenntnis.
Und der Schrei, den der Alte aus der Tiefe seiner Seele herauspresste, wurde aufgezeichnet und weitergegeben. Und dort, in der Weitergabe, saßen andere Gehirne mit einem Gesicht und dieses Gesicht trugen auch die Wissenschaftler, die wissen wollten, wie sie hergekommen waren, und wie man die Welt wieder besuchen könnte, die sie aufgegeben hatten. Und irgendwo, inmitten einer Maschine, von der Menschheit vergessen im roten Staub eines toten Planeten, lag ER, der Herrscher des Mars, namenlos und allein und die metallenen Wesen, die seine Gene ernteten, wussten nicht, dass sie überhaupt einmal gelebt hatten.