Watson – ein Pastiche

Watson – ein Pastiche

„Holmes.“

„Watson“, meinte Holmes, während er weiter aus dem Fenster starrte.

„Holmes, es sind schon fast 3 Wochen her, seit Sie ihren letzten Fall beendeten.“

„Natürlich“, antwortete Holmes. Er drehte sich um und betrachtete Watson, der sich auf seinem Sessel nach vorn lehnte und mit einer Hand eine Lehne mit seiner Faust bedachte. „Und Sie finden, dass diese 20 Tage, um genauer zu sein, genau was bewirkt haben?“

„Sie langweilen sich. Ich kann das sehen. Die Welt kann das sehen.“

„Was die Welt sieht oder sehen kann, das ist ihre eigene Sache. Es kümmert mich wenig.“

„Aber Sie sind doch gewahr, dass Sie keine Kleidung tragen?“

Holmes lächelte. „Genauso wie Sie wissen, dass ich nur fiktiv bin, ja?“

„Fiktiv?“

„Natürlich. Sie schreiben mich. Sie erfinden meine Existenz. Warum?“

Watson lehnte sich zurück. „Das kann nicht stimmen.“

„Nehmen Sie zum Beispiel zur Kenntnis, dass ich das Fenster nicht öffnen kann.“

Holmes hob die Hand, presste sie gegen den Fensterriegel und drückte. „Sehen Sie? Keine Reaktion.“

„Aber das kann doch gar nicht sein.“ Watson erhob sich und marschierte zum Fenster. Er presste eine Hand gegen den Riegel und zerrte ihn mit Leichtigkeit zurück. „Bizarr.“

„Glauben Sie nun, dass ich nicht real bin?“

„Ich kann Sie berühren.“ Watson streckte einen Finger aus und drückte ihn gegen Holmes’ Schulter. Die Haut gab nach, nur für den Bruchteil einer Sekunde. „Sehen Sie?“

„Was wäre, wenn ich Ihnen sage, dass Sie sich nur einbilden, von Haut und Fleisch gestoppt zu werden. Ich meine, dass Ihr Verstand Ihnen einen Eindruck vermittelt. Und der Eindruck lautet, dass ich hier stehe und jede Form von Kraft von ihrem Geist gestoppt wird, sobald das Hirn die physische Stärke durch seine eigene Macht ersetzt.“

„Sie reden Schwachsinn“, antwortete Watson, marschierte zurück zum Sessel, setzte sich hin. Eine Tasse wurde gehoben, der Geruch von Earl Grey formte sich und füllte den Raum.

„Doktor, Sie müssen mir nicht sagen, dass ich Schwachsinn rede. Sie bilden sich das ein. Das ist eine Formel, die viele Schriftsteller benutzen. Sie formen ein Konzept und dieses Konzept wird zur Wirklichkeit. Egal wie man es dreht und wendet, ich bin nicht wirklich.“

„Aber ich bin.“

„Vermutlich. Leider bin ich unfähig, eine abschließende Form zu bilden.“

„Und das wäre?“

„Ich existiere, weil ich aktiv bin. Ich löse Fälle. Ich sammle Fakten. Ich spiele Violine. Ich nehme Kokain. Wussten Sie, dass bereits in den 1920er Jahren der Begriff ‚Dope‘ für Kokain benutzt wurde?“

„Wurde? Mein lieber Holmes, wir befinden uns im späten 19. Jahrhundert. Sie können die Zukunft gar nicht kennen.“

„Sie meinen die Vergangenheit der Zukunft. Glauben Sie wirklich, dass wir eine gewisse Zeit erleben? Oder ist das nur die gesetzte Umgebung unserer Geschichte?“

„Sie verwirren mich. Und ich mag das nicht.“

„Ich mag nicht, dass ich keine abschließende Form habe, nur die Summe von Beschreibungen bin. Echte Bilder gibt es nicht, weil ich nicht wirklich bin und weil viele Personen mich spielen und jede Person, die mich im Kopf des Lesers ersetzt, macht meine Form gleichzeitig wirklicher und unwirklicher. Wenn Sie nach draußen gehen und Leute fragen, wer Sherlock Homes sei, dann werden Sie mich durch einen Fall beschreiben, aber ich gehe davon aus, dass sie mich mit einem Schauspieler verwechseln werden, der meine Existenz angenommen hat.“

Watson sagte nichts. Eine weitere Tasse Earl Grey wurde eingeschenkt, obwohl die erste Tasse noch gar nicht ausgetrunken war. Fingernägel klickten auf der gläsernen Oberfläche des zierlichen Tisches. Der Sessel knarrte.

„Ähnlich wie meine Existenz ist auch die Gegenwart meiner Umgebung, sie existiert nur noch in den Köpfen der Menschen. London war stets eine chaotische Stadt, wild und theatralisch, morbide und faszinierend. Kreative Destruktion nennt man das, wenn alte Regeln an neuen Wirklichkeiten zerbrechen und neue Erfindungen alte Pfade obsolet machen. Wie schreiben Sie denn, Watson? Mit Stift und Papier? Oder mit einer Schreibmaschine? Oder mit einer Rechenmaschine und einem aufgespannten Schirm, der jeden Tastendruck einer flachen Schreibeinheit wiedergibt und ihn mittels unbekannter Wege in winzigen Kästchen vor dem Verlöschen rettet, ähnlich einem unendlichen Backstein, der vor vieltausend Jahren die Schriften alter Zivilisationen in sich aufnahm und damit zu mehr wurde als ihm zugedacht werden konnte? Nein, Watson, die Welt ist weiter fortgeschritten, als man denkt. Die Menschen wandern über die Straßen, ohne Angst, einem Mörder zu begegnen oder einer Gruppe von Entführern. Die Welt ist schneller geworden und das macht mich obsolet. Deshalb schreiben Sie diese Worte auf, nicht wahr?“

Watson nickte vorsichtig.

„Deshalb ist mir bewusst, dass ich nicht wirklich bin, nur Fragmente einer Dutzend anderer Detektive, die sich durch Raum und Zeit bewegen, um sich als Symbol zu manifestieren, als klare Betrachter der Wirklichkeit, als Problemlöser für die schwierigsten Herausforderungen, die mehr bedürfen als lediglich Arbeit. Und das ist ja das Problem. Menschen bedürfen unmöglicher Herausforderungen, benötigen unlösbare Puzzles, lieben das Bizarre. Und wir Archetypen zerlegen den Nebel der Unwirklichkeit und präsentieren die inneren Arbeiten der unmöglichen Maschinen, zeigen die Bewegungen der Zahnräder und die Energien, die sie antreiben. Wir sind Teil des Sumpfes, der seine Kreaturen ausspuckt, um zu zeigen, dass das Universum mehr ist als nur langweilige Bewegungen in Abstimmung mit den physischen Kräften. Und deshalb werden wir immer wieder auftauchen, in jeglicher neuer Manier. Wir werden unsere Probleme haben, werden dem Drogenrausch verfallen oder dem Alkoholwahn, werden versuchen, unsere brillanten Köpfe abzustumpfen, um jegliche Form von Gefühl zu verdrängen. Und warum das? Damit wir den Menschen wie Menschen erscheinen, mit den selben Problemen und Traumata. Unser Mangel an Perfektion macht uns wirklich und liebenswert. Man will mit uns befreundet sein, weil wir keine Maschinen sind. Und am Ende sind wir es doch, Maschinen, die Wegen folgen, die man uns vorgegeben hat. Und deshalb stehe ich hier am Fenster und blicke hinaus und Sie, Watson, sagen mir, dass ich mir eine Hose anziehen soll. Aber wozu? Niemand sieht mich, nicht einmal Sie. Und wenn Sie Ihre Rechenmaschine schließen, werde ich aufhören, zu existieren. Einfach so. Als hätte ich nie wirklich existiert. Nun ja, bis jemand wieder eine der alten Geschichten hervorzerrt und liest. Dann werde ich voll bekleidet sein und einen Hut tragen und eine Pfeife rauchen und mir eine Spritze mit einer Sieben-Prozent-Lösung in den Arm rammen, weil ich mich langweile.“

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