Kalor, der hippe Barbar

Kalor, der hippe Barbar

In jenem Gedankengang, der Kalor den Weg durch das Labyrinth ermöglicht hatte, waren auch die Feinde, denen er begegnet war, Teil der Unterwelt geworden. Ihre zuckenden Leiber, geteiltes Fleisch und brodelnde Eingeweide, lagen noch immer auf den schwarzen Steinen, die dem Pfad des Barbaren untergekommen waren. Sie blieben ungesühnt, jene Freunde, die Kalor verloren hatte, wenn er nicht das letzte Stück des Wegs wandern würde, ein Pilger auf dem Pfad der Rache.

Gestern noch waren sie alle versammelt gewesen: Joaar, der Magier, dessen funkelnde Illusionen manch Wirtshaus in Panik versetzt hatte, wenn er wieder einmal seine Fingerzauber ausgeführt hatte, die aus dem Nichts der Flammen Kreaturen in die Realität gemalt hatte. Auch würde Kalor Oratra vermissen, die Schamanin aus den Niederungen des Morat, des gigantischen Sumpfgebietes, das bis an die Grenzen der Steppen reichte, durch die sie gewandert war, um die wahre Bedeutung ihres Schicksals zu ergründen. Ihre schuppigen Hände lagen reglos neben ihrem spitzschnauzigen Gesicht, das noch im Tode so wirkte, als ob sie etwas suchen müsste.

Und dort war Zzzsa, der Priester des Ilkor, Bruder des Osax, Herr der Sieben Winde, dessen geheiligter Körper in Flammen aufgegangen war, als die Mächte der tausend Kammern ihren Weg durch seine Zauber gefunden hatten. Sein riesenhafter Leib wirkte verdorrt, von den Flammen bis auf die Essenz zermalmt, war ein Teil der steinernen Wände geworden, in denen unheilige Runen und Zeichen längst vergangener Zivilisationen eingebrannt waren.

Nun war Kalor allein, einmal wieder. Es hatte nicht lang gedauert, bis die Mächte des Schicksals ihm seine Begleiter genommen hatten. Es war ein Fluch, eine Hand, die sich auf seine Existenz gelegt hatte.

Er schritt weiter, grübelnd, abgelenkt. Seine rechte Hand hielt den Zweihänder, als wäre es ein Zweig. Nicht wenige hatten Gelegenheit, es in Aktion zu sehen, aber die meisten waren so überrascht von dem Gleißen der Klinge, dass es das letzte war, das in ihren Augen zurückblieb, während ihre Köpfe davonrollte. Kalor war nicht stolz darauf, so zu handeln, aber als Barbar war es mehr Zufall als Wunsch, Monstern zu begegnen. Er kratzte sich den Bart, dann bemerkte er, dass er ihn gestern aus einer Laune heraus abrasiert hatte, um für dieses Unternehmen gewappnet zu sein. Wie so oft war er sich nicht bewusst, wieso er hier war, dann erinnerte er sich.

Der Turm stand jenseits der Mauern von Borrat, der letzten Stadt an der Grenze ins Unbekannte. Hier sammelten sich die Krieger, Diebe, die Räuber und Verstoßenen – sie alle versuchten, eine Gruppe zu finden, um die großen Geheimnisse aufzudecken. Am besten natürlich war es, wenn neben den verzauberten Waffen und Rüstungen auch eine Menge Gold abfiel, das sie nutzen konnten, um ein wenig Spaß zu haben – und Spaß hatte man hier. Kalor grinste bitter. Er war nicht gerade neu in dem »Gewerbe« und eigentlich brauchte er weder das Gold noch die verzauberte Ausrüstung, die an jeder Ecke in Borrat wohlfeil geboten wurde. Hier, in diesem Turm, dessen Spitze – so sagte man – in die letzten Winkel der Nacht reichte, brauchte er nur sein Schwert. Und Gefährten.

Ein Schatten drang aus einer Ecke in sein Blickfeld. Er erstarrte, wartete. Der Schatten, dessen lichtlose Augen durch die Gegend schweiften, summte zornig, flimmerte, schwebte über die goldverzierten Vasen hinweg, die am Rand standen, die üblichen Grabbeigaben der alten Herren und Damen dieses Landes. Verrottete Gardinen begrenzten die von rostigen Gittern durchstoßenen Fenster, die das fahle Licht eines späten Sonnenaufgangs in den Raum warfen. Ein zweiter Schatten kroch hervor. Seine zitternden Tentakel krochen über die grau flimmernden Bodenfliesen, in denen sich die vergessene Magie von Jahrhunderten gesammelt hatte, bereit …

Und da geschah es auch schon. Einer der spinnenartigen Finger berührte eine silberglänzende Platte und ein Strahl schoss für mehre Meter hinauf, stanzte ein Loch goldenes Lichts in den Raum. Kreischend zog sich der Schatten zurück, doch nicht schnell genug. Goldene Flocken krochen am Tentakel entlang, bissen, fraßen an der spinnenhaften Kreatur, bis sie nach Augenblicken, ähnlich einem alten Puzzlespiel, zerbarst und einen stinkenden Nebel zurückließ.

Kalor rollte mit den Augen. Vor Jahren hätte er kehrt gemacht, aber heute wirkte ein solches Ereignis eher lächerlich, als habe jemand die schlechten Erinnerungen einer vergessenen Kindheit wiedererweckt, nun ja, zumindest versucht. Fast hätte er gegähnt, aber das hätte den ersten Schatten aufgeschreckt, der noch immer dahinschwebte wie eine Wolke aus Angst und Langeweile. Endlich zog sich aber auch jener Schatten zurück, jene Erinnerung an unbekannte Lebewesen.

Der Weg nach vorn blieb frei und so, bedächtig wie eine Fliege, sprang Kalor von Fliese zu Fliese, ohne die magischen Worte zur berühren, die über ihnen schwebten, leicht zu erkennen durch den Abdruck von Asche an ihren Rändern. Er bedauerte, dass keiner seiner Gefährten dabei war – auf der anderen Seite hätten sie sicherlich Witze darüber gemacht, wie er nun reagierte. Seine Schwerthand wechselte, denn er brauchte die rechte Hand, um die Kante eines halb in die Wand eingelassenen Schrank zu packen. Seine dicken Finger bohrten sich in das morsche Holz, aber das war nötig, denn unter seinen Füßen bewegte sich etwas. Vermutlich hatte jemand, völlig unabsichtlich, in einen der Spiegel des Thissa geschaut und hatte ihn fallenlassen, als sein Körper in eine der vieltausend Dimensionen gezogen worden war, die hinter dem unheiligen Silber lauerten. Selbst die Händler in Borrat, die diese Schmuckstücke verkauften, waren nicht dumm genug, die glänzenden Oberflächen mit seidenen Tüchern abzudecken, am besten mit jenen aus den verlorenen Tempel von Iqdcs, die selbst eine gewisse Kraft in sich trugen, nämlich jene, ein Eigenleben zu besitzen und hin und wieder, so sie ins Sonnenlicht gelangten, eine Kreatur zu gebären, die mit Vorliebe Edelsteine verschlang – aber nur solche, die in Handarbeit von spätvenusischen Wanderern gefunden worden waren. Kalor hatte nie solche Edelsteine gesehen, weil sie viel zu billig waren. Außerdem musste er auf das Bier sparen, das in den unbekanntesten Wirtshäusern der Umgebung ausgeschenkt wurde. Deshalb war er hier. Es dauerte ihn nun wirklich, dass er allein war. Auf der anderen Seite musste er nun die Geschichte seines Abenteuers nicht mit anderen teilen.

Er ließ den Schrank los und rollte seinen massigen Körper ab. Dabei bemühte er sich, weder Tisch noch Stühle zu berühren, die jemand aufgebaut hatte, um ahnungslose Wanderer davon abzuhalten, die höheren Ebenen des Turms zu besuchen. Jenes Holz, aus dem die Möbelstücke gebaut worden waren, waren zwar nicht magisch und auch nicht verflucht, sie waren aber schmutzig und die Teller darauf waren aus billigstem Porzellan gefertigt. Vermutlich hatte sie jemand mitgebracht, um darauf zu essen, was eine abscheuliche Art war, mit jenen … Nein. Das war es leider. Die Symbole auf den Rändern der Teller zogen ihn an. Es waren Blumen, blaue Blumen, Symbole seiner Kindheit, einer Kindheit in den Bergen. Der Horror kroch über seine Seele. Sein Schwert schien nutzlos zu sein. Erinnerungen flammten auf, verkochten wie Sauerkrautsuppe mit Schweinefleisch, Linsen mit gebratenem Knacker. Es durfte nicht sein. Nicht hier, nicht jetzt. Nicht auf dieser Ebene des unendlich scheinenden Turmes. Stimmen flüsterten in einer fremden, längst vergangenen Sprache, einer Sprache, die Kalor selbst laut lesen musste, um sie zu verstehen. Explodierende Konsonanten wurden vom Schatten der eigenen Zunge zermalmt, ein halbes Dutzend Vokale wurde einfach ausgelöscht. Kalor schrie. Sein gutturales Röhren wurde von den Echos aus dem Ecken der Kammer zurückgeworfen, wurden zu verzerrtem Lachen, wurde zu Worten, die er in der Fremde verloren zu haben hatte, doch nun waren sie da und sie waren bitter wie das Bier, das in steinernen Krügen in den großen Wirtshäusern präsentiert wurden, billig und berauschend.

Als Kalor erwachte, saß er neben der Tür. Sein Nacken schmerzte und seine Hände fühlten sich an, als wäre er stundenlang über brennende Steine gekrochen. Die Finger an seinen Händen pulsierten im Gleichklang seines Herzens. Er rappelte sich auf, schwankte für einige Augenblicke, dann wanderte er weiter. Er schaute sich nicht um. Diesmal hatte ihn das Geschirr nicht besiegt. Diesmal war er kein Opfer seiner Erinnerung geworden, auch wenn Fetzen davon durch seine Gedanken krochen. Doch mit jedem Schritt wurde es einfacher, als ließe er sie zurück. Die Treppenstufen halfen ihm, denn jede fünfte, siebende und neunte war verflucht und hinterließ das Gefühl von spitzzüngigen Nesselblättern in seiner Nase. Die Fackeln, welche an den Wänden der ewigen Spirale hingen, flüsterten ihm Belohnungen zu, die er zu erwarten hätte, wenn er aufgäbe, wenn er einfach akzeptieren würde, dass jeder seiner Schritte einer in die falsche Richtung wären. Hatten sie recht? Kolar wusste es nicht. Er kämpfte gegen die Schwerkraft an, die wie ein Anker an seinem Hals hing, die jeden Schritt zu einer Welle machten in einem Meer aus Zeit und Gravitation. Er grinste. Gravitation. Ein Wort mit vier Silben, das ihm ein Meister der Magie beigebracht hatte, Augenblicke, bevor er ihm das Wissen aus dem Schädel geschlagen hatte. War das nicht gestern gewesen? Wie hieß das Wirtshaus noch? Hatte es überhaupt einen Namen oder nur eine Adresse, einen Ort für jene Krieger, die besondere Dinge mochten wie Schwerter als Glas oder Schilde aus panierten Sägespänen? Kalor schob seine Brille, die bis zur Nasenwurzel gewandert war, zurück zur Nasenspitze. Sein Hut, der durch den Kampf seine Form verloren hatte, wurde auch von den Stimmen verlacht, die sich in den Kanten der Treppenstufen versammelt hatten, also musste er doch anhalten, die Krempe zur Seite ziehen, dass es wieder hübsch aussah, speziell aussah. Niemand würde ihm glauben, wenn der Hut nicht perfekt aussah. Jeder würde ihm ein Bier spendieren wollen, besonders jene, die Kalor selbst kaufen und zahlen wollte.

In jenen Gedanken versunken, bemerkte er nicht, dass sich eine neue Ebene vor ihm aufgetan hatte. Er kannte sie nicht, aber er wusste sofort, dass er hier richtig war. Die Kammer war halb so groß wie die letzte, dafür doppelt so leer. Ein einzelner Schrank versteckte sich vor dem auffällig aufgeregten Blick des Barbaren. Er ließ seine Hosenträger aus dem Leder eines freiwillig dahingeschiedenen Mikroleviathan knallen, ein Einzelstück, da es diese Spezies seit Jahrtausenden nicht mehr gab. Der Knall erweckte ein Summen an seinem Hals, was ein perfektes Zusammenspiel erzeugte, denn die Fliege, die Kalor über seinem Hemd trug, war auf die Vibrationen suggestiver Herausforderungen eingerichtet, ein Zeichen für seine herrschaftliche Abstammung – auch ein Einzelstück, das Kolar vor einem Jahr aus den Händen eines Hexenmeisters in den Tiefen von Alaksha gerissen hatte -.

Kalor betrat den Raum. Gleißendes Licht reichte ihm die Hand und führte ihn durch das Zimmer. Die Fenster glitzerten freudig. Der Geruch brennenden Vinyls klopfte an seiner Nase an. Eine verstörende Dankbarkeit ließ sich auf seiner Seele nieder, bedachte ihn mit Lobpreisungen. Er wanderte zum Schrank und blieb davor stehen. Vor ihm, inmitten einer unendlichen Anzahl kaleidoskopartiger Kristalle, stand ein schwarzer Spiegel. Rillen krochen vom Rand in die Mitte des Objekts, eine einzige, spinnenartige Spur, die eine fremde Kultur in das brodelnde Obsidian einer längst vergessenen Welt geschnitten hatte. Hier lagerte das Wissen, das unendliche Wissen dieser Wesen, die niemals zuvor jemand gehört hatte – und hören würde. Jeder Versuch, die Rillen zu berühren, würde die Auslöschung einer Welt bedeuten. Niemand würde es erlauben. Niemand würde es verstehen. Doch Kalor selbst richtete seine Finger nach dem Objekt aus, ließ sich von dem Wunsch leiten, von dem Bedürfnis leiten, der Meister zu sein, der Herr jener Kräfte, die er allein besitzen würde, er, nur er allein. Doch … was würde geschehen? Grobperliger Schweiß schoss über seine hohe Stirn. Dicke Tropfen ängstlichen Schweißes tropften von seinen Augenbrauen. Er könnte die Inkarnationen hören, könnte die Worte des Hohepriesters in sich aufnehmen, könnte fast allmächtig sein – allmächtig und allein. Allein. Ganz allein. Wer würde dann voller Ehrfurcht von seinen Abenteuern sprechen? Wer würde ihm dann das Bier brauen, das in faustgroßen Fässern dahinreifte? Wer würde dahinschmelzen, wenn er sein Schwert präsentierte, rostig und stark wie die Erinnerung an die großen Krieger? Niemand … niemand.

Ein neuer, ein besserer Gedanke machte sich in einem Kopf bereit. Er öffnete seine Gürteltasche und holte eine Platte hervor. Seine Finger ritzten heilige Runen in die silberne Oberfläche, denn hob er seine Hände, konzentrierte sich auf den schwarzen Spiegel. Es klickte, schnarrte, hämmerte. Augenblicke später kroch eine glühendes Bild in die Welt hinaus, das Kalor lächelnd betrachtete. Er packte es ein und wanderte davon. Die Leute in den Wirtshäusern würden Augen machen – und ihm sicher auch ein Bier spendieren. Ein Bier, das er sich verdient hatte. Ein Bier, das in faustgroßen Fässern von grüngekleideten Gnomen in vergessenen Brauereien jenseits der verlorenen Berge gebraut wurde.

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