Hayes – Giftiger Wein – Kapitel 13

Hayes – Giftiger Wein – Kapitel 13

Der Kristall kreischte. Seine Stimmen verkamen zu einem einzigen grauenhaften Geräusch, das selbst die Felswände zum Beben brachte. Brocken knirschten, dämonenhafte Schatten krochen aus den Rissen, sandten Flüche durch die Höhle, verbrannten im Feuer ihres eigenen Ursprungs. Buchstaben unheiliger Worte brannten sich durch Stein, wurden zu Toren, aus denen der Terror unzähliger Dimensionen kroch. Doch das war nicht genug, um die Macht aufzuhalten, die Hayes in ihrem Inneren empfand, die Macht, die durch ihre Finger in die Welt hinausströmte, die das unbekannte Licht, den unbekannten Kristall berührte … und fraß. Ja, anders war es nicht zu beschreiben, selbst nach all den Jahren, die folgen würden, die Johann noch erleben würde – selbst im hohen Alter, selbst als er andere Dinge gesehen, gefühlt hatte, Wesen, die unbeschrieben blieben: Diese Kreaturen waren nichts im Vergleich, was in seiner Seele brannte, wenn er – auch wenn er es nicht wollte – daran dachte.

Der Kristall schmolz dahin – und kämpfte dagegen an, ein Tier im Kampf gegen einen würdigen, jedoch deutlich stärkeren, tödlichen Gegner ohne Respekt für Regeln, ohne Geduld für das Aushandeln einer Niederlage. Es gab kein »Ich unterwerfe mich« in diesem Kampf, nur Verzweiflung und Hass, soviel Hass, dass die Welten aller Dimensionen nicht die Stärke hatten, diese zu bekämpfen – nur Hayes.

Der Kristall riss. Johanns Gesicht leuchtete für einen Augenblick auf, blieb jedoch in diesem Ausdruck hängen. Der Riss weitete sich, wurde zum …

Fäden krochen aus der Tiefe der bizarren Dimensionen in diese Welt, Fäden, die herumzüngelten, als suchten sie etwas, die zu Fingern wurden, schwarzen Fingern einer verqueren Hand, tausendfach verzerrt durch Licht und Angst. Sie zerrten den Riss auseinander, versuchten aus ihm ein Tor zu machen, aus dem sich das Wesen nach Kinsul begeben konnte, ein tödlicher Gegner – und er war nicht allein. Aus den unbekannten Nächten hinter der Spinne – anders ließ es sich nicht beschreiben – krochen weitere Kreaturen heran, noch grotesker, noch tödlicher als das tausendbeinige Wesen.

Hayes sah es nicht. Ihre Hände pulsierten, das Licht, das sie ausstrahlte, vernichtete jede Sicht vor ihr. Ihre Augen waren kein Teil mehr von ihn – und sie würde sterben. Johann konnte es fühlen, konnte die Zukunft sehen, von der es nur noch eine gab: Ihren Tod. Er musste etwas tun, musste alle Kraft sammeln, die er hatte. Er blickte sich um.

Der Dolch!

Er überwand die unendliche Schwerkraft, die ihn an der Stelle hielt, durch puren Hass, durch absolute Verachtung, durch die unbegrenzte Trauer, die ihn erfüllte. Der Kristall hatte ihm seinen Bruder genommen. Eis umfasste sein Herz mit tödlichen Fingern. Ab diesem Augenblick war alles fast zu leicht. Er war kein Mensch mehr, nur noch Tod, nur noch Vernichtung. Er stand auf. Er nahm den Dolch an sich, packte den Griff, verschmolz ihm, wurde eine Einheit mit der Klinge. Er ging an Johanna vorbei, seinen Blick auf die schwarzglänzenden Beine gerichtet, die sich durch die Gegend tasteten. Sie berührten ihn für einen Augenblick, doch nicht schnell genug, um die sensorischen Eindrücke durch seine absurden Nerven zu einem Hirn zu schießen, das so fremd sein musste. Die Klinge glitt durch das dürre Gerüst, in dessen Inneren stinkende Flüssigkeiten hausten, die in giftigen Schüben auf den Felsboden spritzten. Die Kreatur reagierte verzöger, viel zu verzögert, um korrekt zu agieren, um sich richtig zu wehren. Der Dolch wurde zum Blitz – bis er schließlich in den plumpen Körper der Bestie eindrang, immer und immer wieder, Innereien zerfetzte, Innereien, die so fremd schienen, dass sie das Metall fast in sich aufnahmen. Die Klinge schrumpfte mit jedem Hieb, verbrannte sich selbst, verbrannte die Reste seiner ursprünglichen Magie, schmolz dahin. Kochende Tropfen zischten auf dem Felsboden. Mit einem letzten Schlag halbierte Johann den kopflosen Torso des Wesens. Sie zuckte. Stille kroch durch die Höhle. Der Kristall kollabierte, weitete sich noch einmal, so dass Johann tatsächlich die Welt hinter dem verbotenen Tor sehen konnte, dann zog es sich zusammen – und starb. Die halbe Spinne fiel zu Boden. Der Schleim begann nach Augenblicken, den Körper zu fressen. Rauch stieg auf, giftig und grün.

Hayes stand noch immer da, ihre Hände ausgerichtet, ihr Kopf erhoben, ihre Augen starr verloren im Nichts. Johann ließ den Dolch fallen. Sein heller Klang erzeugte eine Reaktion in Hayes. Sie zuckte zusammen, schloss und öffnete die Augen wieder. Ihre Stimme fühlte sich so schwach an, als ob sie nicht im Raum sei. »Ist es vorbei?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete Johann.

»Wir sollten gehen«, flüsterte Hayes, mehr Maschine als Mensch.

»Zurückgehen?«

Hayes deutete auf das Loch im Boden. »Wir klettern nach oben … oder unten.«

Johann ging als erstes. Ihm schien alles gleich zu sein, Magie oder Vernunft, alles schien falsch zu sein. Nein, war falsch. Er schaute für einige Augenblicke in das Loch, dann sprang er, verschwand in der Finsternis. Stille.

Hayes blickte sich um, betrachtete dann ihre Hände, doch es war zu dunkel, um wirklich etwas zu erkennen. Dann folgte sie Johann.

Der Abgrund schien ewig zu sein, doch dann erkannte sie da Licht am Ende – und Johanns Hand, die sich nach ihr ausstreckte. Sie griff danach, glaubte, ihn zu verfehlen, auf ewig zwischen den Welten umherzuschwingen, der Welt des Terrors und des Lichts, doch er erreichte sie und zog sie hinauf in die Wirklichkeit. Er lächelte, so selten wie er es bisher getan hatte, war es ein größeres Wunder als die fremde Welt, die sie nie gesehen hatte, nicht bewusst gesehen hatte. Ihr Kopf war leer, doch die Erinnerungen würden in ihr bleiben, ohne dass sie sie je bewusst wieder erleben würde, nur in den Träumen, die ihr folgten.

Sie verließen die Burg. Rauch stieg durch die Fenster auf. Irgendwo in der Ferne läutete eine Glocke, vermutlich unten im Dorf. Niemand schaute ihnen hinterher. Der Weinberg sagte kein Wort. Sie schwiegen. Auf der Brücke, die der alte Mann vergessen hatte, zurückzuziehen, blieben sie stehen. Johann schaute sie an. Sie lächelte und ging davon. Als sie in der Ferne verschwunden war, packte Johann seine Mönchskutte, zog sie sich über die Schulter, betrachtete sie, schüttelte den Kopf und warf sie davon. Er stand noch immer da, als die Kutte am Horizont verschwand.

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