Hollquick – Kapitel 9
Ich sehe eine Gestalt heranwandern. Fluchend. Dünn. Fast ein Mensch. Ich ziehe meine Waffe.
Der Mann bemerkt mich nicht. Erst als ich ihm die Waffe gegen das bemalte Gesicht halte, blickt er auf. Und beginnt zu jammern. „Entschuldigen Sie bittschön, Sie sind ein Terrorist, Sie werden mich töten tun!“
Ich verdrehe die Augen. Wirklich?
„Wer sind Sie?“
Er nickt heftig. „Ich bin … Tron. Mega der Vorname. Ich bin geflohen, das ist die Wahrheit!“
„Rauchen Sie?“, frage ich.
Er lächelt, zerrt eine Zigarette aus seiner Jackentasche und zündet sie an.
„Ich bin kein Terrorist. Ich bin nur … Gast.“ Ich zucke mit den Schultern.
„Ah, ein Stadtmensch. Sie glauben wohl auch, dass wir hier oben etwas altmodisch sind, aber das stimmt nicht.“
„Äh wie?“
„Nichts, nichts. Ah, die Zigarette ist gut. Wollen Sie auch eine?“
„Sehe ich so aus, als ob ich rauche?“
Er schaut mich von oben bis unten an. Schüttelt den Kopf. „Nain, das sicher nicht. Aber die bösen Terroristen sind überall. Und ich habe Angst.“
„Sie arbeiten hier?“
„Ja natürlich. Großartige Firma. Tolles Klima. Günstige Verbindung in die Stadt. Weihnachtsfeiern.“
„Heißen Sie wirklich Tron. Mega?“
„Naja, das ist gelogen. Entschuldigen Sie. Mein Name ist Rallan Ickman.“
„Sonst noch? Der Sheriff von Nuttingham?“
„Nein“, lacht er. Seine Zähne taumeln. „Dann müsste ich Weihnachten verbieten.“
„Gehen wir. Ich bringe Sie in Sicherheit.“
Danke sehr. Das Wort höre ich nur in meinem Kopf.
„Achja, können Sie schießen?“
Er zieht eine Waffe hervor. „Natürlich! Gehe zum Schießstand 2x die Woche.“
Ich nehme sie an mich und setze mich nieder. Er blickt sich um, betrachtet fehlenden Lichter an den Kaugummipaketen.
Als ich ihm die Waffe wiedergebe, ein schönes Modell aus Heavy Metal Land, lächelt er unverbindlich. „Und wie ist Ihr Name?“
„Roy. Ray. Clint. Clint Ostwald. Genau. Clint.“
Er nickt anerkennend. „Kewler Name, Clint.“
Wir wandern eine Treppe hinunter, dann eine zweite. Hier oben finde ich meinen Arbeitsplatz, ein Teil der vieldutzend Waben, hinter deren papierschmalen Wänden jeweils ein Visionum steht, manchmal auf mehrere, je nachdem. Auf dem großen Schirm an der Wand flattern Weihnachtseulen heran und werfen Briefe ab, aber keiner ist für mich. Ich bin zu alt für diese Art Jugenddrama. Viel zu alt.
Rallan wirbelt herum. Er grinst. Seine Waffe zeigt auf mich. „Hahaaaaaa“, ruft er.
„Ja?“, frage ich. Er zerrt seinen Stein aus der Jackentasche. „Karol! Leute! Der Typ ist hier!!!“
Ich lege meinen Kopf schief. Mein Nacken brennt.
Er drückt ab. Es klickt. Ein leises Hüsteln entfleucht der Mündung seiner Waffe. Er hebt sie vor seine Augen und starrt sie an. „Was ist das?“, fragt er.
„Klebeband. Und ich habe den Kristall entfernt!“
„Chef!“ Die Orks rollen heran. Beginnen zu feuern.
Ich werfe mich hinter eine Papierwand, die alles außer Geräusche abzufedern vermag, vertrauen Sie mir, und sehe die Einschläge, die sich langsam durch in die Waben bohren.
Irgendwas mit „Shoot ze Visionum!“ wird gerufen. Keiner reagiert. Offenkundig war das schlechtes Heavymetal, denn als Ruber „Schießt dem Fenster!“ brüllt, wissen die Orks, um was es geht.
Dutzende Visionen gehen in Flammen auf und verstreuen ihre dickwandigen Glassplitter in der Gegend. Ich taumle zurück, jage mir dabei mehr oder weniger versehentlich die Splitter in die schuhlosen Füße. Es tut meinen Socken sicher mehr weh als mir, aber dennoch wird das bluten. Ich feuere noch ein paar Salven ab, erwischen den großen Weihnachtseulen-Bildschirm an der Wand, er fällt und köpft zwei Orks, deren Torsos weiterfeuern, bis ihre Waffen leer sind.
Als sie mich finden wollen, bin ich weg. Offenkundig übersehen die überlebenden Orks meine Blutspur oder sie mögen allgemein kein Blut. Ruber ist sicherlich erfreut, dass ich die Kabum-Stäbe zurückgelassen habe. Warum er auch immer die Packungen C4 am oberen Parkdeck für Drachen versteckt, kann ich nicht sagen. Es bringt ja nix, was er da tun kann.
Ich sitze in einem der Badezimmer. Blut klebt an allen Wänden, auf dem Boden und ich zerre die Splitter aus meinen Füßen. Es blutet weniger als gedacht, als hätten meine Socken bereits angefangen, die Wunden zu verschließen. Magische Socken sind ein Geschenk, leider zu teuer sonst, aber vor 5 Jahren gab es mal eine Weihnachtslotterie und ich gewann diese Socken.
Der schwarze Stein springt an und statt Ruber zu hören, der sicher gerade viel zu viel zu tun hat, knirscht der Golem in mein Ohr.
„Ray?“, fragt er. Ich nicke. Er hört das Knirschen meines kaputten Kunden-Nick-Nackens und lacht. „Wie gehts dir?“
„Naja, das übliche. Füße bluten wie Sau. Ein paar Orks sind tot. Uto ist tot. Naja, das übliche.“
Der Golem knirscht mit seinen Tonzähnen.
„Warum bist du nicht daheim, Golem …?“
„Stony Erdfaust.“
„Stony. Also?“
„Ich habe Pflichtwache über die Weihnachtstage. Habe versehentlich jemanden erschossen.“
„Oh, das ist mies.“
„Ja, und daher darf ich keine Waffe mehr besitzen.“
„So übel?“
„Naja. Ich war Bodyguard der LaManza-Spirelli-Hochzeit.“
„Die mit den angreifenden Familien Loreknall und Capotitutticapo?“
„War kein schöner Tag.“
„Alle tot. Ich war schuld.“
„Ach?“
„Frag nicht. Ich hatte an dem Tag meine Brille vergessen. Wurde degradiert.“
„Wie?“
„Das war kein Angriff, Ray. Das waren normale Hochzeitsgäste.“
„Shit.“
„Genau so. Naja, und jetzt muss ich Extrawachen schieben und meine Frau bekommt einen Kiesel und ich sollte bei ihr sein …“
„Ja. Solltest du und nun bist du hier, weil ich dir nen Ork auf die Windschutzscheibe geworfen habe.“
Der Golem lacht. „War ja nicht meine Windschutzscheibe, sondern die von der Wache.“
Wir lachen leise.
„Ray“, sagt der Golem. „Das EFBIEYE ist da.“
„Dachte ich mir.“
„Was dachten Sie?“
„What, wer sind Sie denn?“
„Ich bin Spezialagent Johnson und so weiter. Wir sind Drillinge. Ich weiß, dass Sie ein Terrorist sind. Und ich hole Sie, verdammt nochmal.“
„Ich bin kein Terrorist, ich bin nur ein Angestellter!“
„Typischer Amoklauf an Weihnachtsabend. Oh, Moment, es klingelt.“
Irgendwo in der Ferne höre ich ein Mini-Visionum klingeln. Es klickt. Lautsprecher. „Yo, Yo, ist da John?“
„Hollquick? Nein. Hier ist Johnson.“
„Johnson, genau. Was ist mit Hollquick? Habe den Namen nie gesagt.“
„Sicher haben Sie das, ich musste nur zwischen den Zeilen lesen. Johannes Hollquick. Also? Der Terrorist. Und Sie sind?“
„Lyke. Schreiwalka. Hören Sie“, er lacht, während er sich sicher gerade eine Portion Kokainum hinter die Nasenflügel schiebt. „Geben Sie auf. Wir wollen doch nur bisschen feiern. Istn bisschen ausm Ruder gelaufen, wa? Ich sitze hier mit Ruber und wir lachen ein bisschen und denken uns, dass das EFBIEYE total falsch am Platz ist. Und Hollquick? Komm vorbei, Mann. Wir alle erwarten dich, deine … äh …“, er raschelt durch ein paar dutzend Notizzettel aus der HR, Interpretation von Popkulturelementen des späten 20. Jahrhunderts bezüglich der Multiversenhypothese von Iliza Schrödingers Katze ‚Jimmy the Tank’, oh Shit, äh, ja, genau. Bitte … öh, sonst bringt Ruber mich um und ich.“
Rubers Stimme rollt durch den Äther wie ein Mathelehrer, der mal in deine Großmutter verliebt war. „Wir wollen die Befreiung und wir wollen diesen Hollquick. Oder sonst …“
Er legt auf.
Ich höre Agent Johnson leise fluchen. „Oder sonst was?“
Alle lachen. Ich kann fühlen, wie die Wache lacht. Dann höre ich etwas schreien und sehe gerade noch Lyke am Fenster vorbeifliegen, grinsend. Yuppies können doch nicht fliegen.
Leute kreischen. Aber sie sind nicht draußen. Sie sind hier. Ich höre da Getrampel dutzender Füße auf den metallenen Stufen, die am Treppenhaus vorbei auf das Dach führen.
Das C4 kommt mir in den Sinn. Verdammt. Sie wollen sie alle sprengen. Aber wieso?
„Stoney?“
„Ja, Ray?“
„Sieht mies aus, ja?“
„Ja, dieser Johnson holt jetzt seinen mechanischen Drachen.“
„Verflucht!“
Ich stecke den Stein ein und beginne, flüssig aus dem Badezimmer herauszugleiten. Blicke mich um. Sehe das staubige Treppenhaus, weiß sofort, dass ich Tetanus bekommen werde und stampfe dennoch nach oben.