Hayes – Der Pfad der Toten – Kapitel 1
Das neue Pferd bewegte sich anmutig über die von Steinen überzogene Straße, tänzelte aufgeregt umher. Hayes hob ihre Augen und starrte in den wolkenlosen Himmel. Die Sonne brachte die wenigen Bäume zum Summen, legte ihnen nahe, dass sie noch nicht tot waren.
»Tot«, murmelte Hayes. Ihre Stimme fühlte sich eigenartig an, als wäre sie ihr fremd. In dieser Höhe verschwamm die Welt um sie herum und sie wusste hin und wieder nicht, so wie war.
Sie befand sich in der Nähe der großen Felsen, die das Königreich von Äuatien von seinem nördlichen Nachbarn abschnitt, einem Nachbar, der die letzten Jahrhunderte in Frieden verbracht hatte, dem Frieden der Toten. Der Pfad, auf dem sie und ihr Pferd unterwegs waren, musste seit langer Zeit unbenutzt gewesen sein. Keiner der Steinbrocken, die teilweise mehrere Ellen hoch und breit waren, hatte seinen Platz verlassen, war schnell von den von Äuatien herangetragenen Resten von Erde und Samen besetzt worden, sodass Blumen, Sträucher, Bäume sich mit ihren Wurzeln in den Rissen und Kanten dahinlebten, atmeten. Nun ja, solang sie hier oben durchhielten.
Der Wind, der aus nördlicher Richtung herankroch, trug den Geruch von Vergessenheit. Jenseits der beiden Finger, die in den Himmel ragten, als wären sie ein Zeichen für Frieden, lag das Land der Toten, unbenannt, vergessen von der Geschichtsschreibung. Doch es stimmte nicht. Niemand teilte mit, dass das Land nicht existierte, man versuchte nur, es zu ignorieren, es aus den Gedanken der Menschen zu schieben, doch das Verbotene reizte immer wieder Leute, Diebe, Krieger, Helden … Idioten. Jeder Mensch, der bereit war, die Grenze zu überschreiten, würde nie zurückkommen. Das sagte man. Das stimmte nicht. Tatsächlich gab es Texte über die Gegenden, es gab sogar Karten. Und wer hatte die Karten gezeichnet?
»Überlebende«, flüsterten die einen.
»Reste der Erinnerung«, meinten die anderen.
Welche der beiden Möglichkeiten korrekt waren – oder eine dritte oder vierte -, das war Hayes egal. Die Erfahrung der fremden Wirklichkeit, die sie erlebt hatte, als sie durch den magischen Spiegel getreten war und der Kampf gegen den wandelnden Zauberer, hatte etwas ausgelöst, hatte die Ruhe, die sie sich selbst verordnet hatte, langsam aber sicher aufgelöst. Selbst der König hatte sie nicht halten können. Er hatte sie mit Gold überhäuft, wenn sie gewollt hätte, doch irgendwann, nach vielleicht zwei oder drei Monaten, war sie aufgebrochen. Sie hatte die Zeit damit verbracht, die Unterlagen Sevenos zusammenzusuchen, doch er war einer jener Männer gewesen, die mehr im Kopf haben wollen als in Schriftform, ein paranoider Gedanke, der seinem Leben die einzig wichtige Wirklichkeit zuordnet. Natürlich gab es Texte, doch diese waren alt, ihre Buchstaben verwittert, die Pergamente nach Sevenos Ableben nicht mehr von seiner Magie zusammengehalten – nein, es war nicht seine Magie, es war die Magie der Kristalle, des roten Kristalls. Es musste schon mit dem Fuzan zugehen, wenn die Kristalle selbst aus dem Nichts gekommen waren und Teile dieser riesigen Welt beeinflusst hatten. Der Fuzan … Hayes lachte. Sie hätte ihn gerne kennengelernt, wenn er existiert hätte. Doch sie konnte sich nicht daran erinnern. Sie konnte sich an wenig erinnern, an wenig aus ihrer Kindheit und Jugend. Manchmal schien es ihr, als wäre sie als erwachsene Person erwacht, aus einer endlosen Betäubung erwacht, plötzlich existent.
In ihren Gedanken gefangen hätte sie fast übersehen, dass das neue Pferd stehen geblieben war. Seine Hufe schienen sich in den Boden, der von Staub und zerfallenen Steinen bedeckt war, zu schieben. Seine Nüstern aufgerissen, atmete das Tier schwer. Sein riesiger Kopf schwang hin und her, als würde es etwas erfassen wollen, was seine Position ständig änderte – und unsichtbar war. Seine Halsmuskeln zitterten.
Hayes lehnte sich nach vorn, berührte seine Mähne, versuchte, das Tier zu beruhigen. Sie begann, seinen Widerrist zu streicheln, begann selbst, zu prüfen, ob sie aufgeregt war, doch sie fühlte nur ihr schnelles Herz, hier oben, in der Höhe. Sie hätte lieber ein Maultier nehmen sollen, aber sie brauchte ein Tier, das Helga ersetzen sollte. Helga hatte es nicht geschafft, hatte den Angriff der Truppen auf die Festung Satic-Sovenos in Panik erlebt und …
Hayes seufzte. Eine einzelne Träne kroch über ihre Wange, kitzelte ihr Kinn, bevor sie auf den Sattel tropfte. Das neue Pferd drehte seinen Kopf zu ihr, als könnte es den Schmerz seiner Reiterin fühlen. Dennoch war es noch immer aufgeregt, als habe es einen Geist gesehen. Vielleicht hatte es recht und Hayes müsste aufmerksamer sein.
Sie folgte der geheimen Anweisung, richtete sich auf und ließ ihre Augen über die Gipfel gleiten, über die Kanten, durch die Schatten. Hier oben schien gar kein tierisches Leben zu existieren. Nur der Wind schien zu leben, ließ sich von der rohen Umgebung leiten, erschuf ferne Melodien, die wie Worte wirkten, Worte einer toten Sprache. Hayes konnte sie nicht übersetzen, aber sie schienen ungefährlich zu sein. Aber es stimmte nicht. Nur weil etwas ungefährlich wirkte …
Langsam setzte sich das Pferd wieder in Bewegung. Noch immer schien es verwirrt zu sein, ängstlich, aber … nein, es war nicht ängstlich. Seine Bewegungen waren starr, als ob es gegen etwas ankämpfte, einen Sog, der seine Reiterin in Gefahr bringen würde. Doch Hayes wollte es so. Sie hatte Äuatien fast hinter sich gelassen, weil sie etwas in einem der Texte Sevenos gefunden hatte, ein Zeichen, ein Muster, vielleicht einen Blick in die Vergangenheit – in ihre Vergangenheit. Zusammen mit den Worten, die man ihr zwischen den Welten hingeworfen hatte, hatte es einen Drang ausgelöst, einen Drang, den sie nicht verbergen konnte.
»Wer bin ich?«, fragte ihre Stimme in der Kammer des toten Zauberers.
»Wer bin ich?«, echoten die Blätter des Buchs, dessen Worte aus altem Blut zu bestehen schienen, altem Blut, das etwas in ihr auslöste, eine Erinnerung an etwas Grauenhaftes.
»Wer bin ich?«, kicherten die Stimmen, die sie in ihren Träumen heimsuchten.
»Wer bin ich?« summte durch ihre zusammengebissenen Zähne, jeden Morgen seit fast zwei Wochen. Und dann war sie aufgebrochen, hatte jegliche Bitten Satics und seiner Tochter und Von und Zus ignoriert, sich von ihnen ein Pferd schenken lassen und eine gute Portion Gold und Silber und war dann in Richtung Norden aufgebrochen. Und nun stand sie hier oben, betrachtete den Abgrund hinter ihr und die Hölle vor ihr und sie lächelte bitter.