Das Tor des Sawta Klaws – 7

Das Tor des Sawta Klaws – 7

Auf dem Berg stand ein Turm. Es war kein normaler Turm. Es war ja auch nicht eine normale Welt aus Fantasygeschichte. Oder doch?
Der Turm war jedenfalls existent. Er konnte gesehen werden. Er war aber anders.
Er wirkte wie ein Neubaublock, aber nur mit einer Wohnung pro Stockwerk. Er war kalt und kahl, grauer Beton und grauerer Stahl. Die Fenster, die eingelassen waren, starrten blind in die Welt hinaus, schwarz und undurchsichtig. Er wirkte wie die Absicht, keine Mauer zu errichten, wie die Erinnerung an Grenzen eines toten Landes.
Die Reiter hatten schon vor einer halben Stunde angehalten, hatten die Pferde zurückgelassen, waren die unwirklichen Pfade hinaufgewandert, durch Büsche gekrochen, hatten sich an Steinen vorbeigeschoben. Sie hatten die Bäume nicht berührt, die wie tote Finger wirkten, alt und verbraucht, als habe jemand ihnen die Kraft ausgesogen, sie verformt wie groteske Kreaturen in einem Tim Burton Film der 90er Jahre.
Schon der kleinste Windhauch hätte sie fortgeblasen, hätte ihre tödliche Asche in der Gegend verteilt, aber hier oben gab es keinen Wind. Als Rolf nach oben geblickte hatte, hatte er sehen können, dass es einen Teil des grauen Himmels gab, hinter dem die Schwärze der Nacht lauerte, ein perfektes Quadrat.
Jetzt kannte er also den Grund der Lücke, die offenkundig jede Form von Zeit und Raum ausschnitt. Und diese sollte er nun betreten.
Die anderen blieben zurück. Sie hatten Angst. Selbst Kingsur starrte unruhig in der Gegend umher, als würde er sich nicht trauen, einen Befehl zu geben. Nur Anneas Bitte hatte Rolf aufgefordert, sich dem Turm zu stellen. Seinem Turm.
Er kannte den Turm nicht. Er kannte die Lore des Platzes nicht, dieser Welt nicht. In seiner Welt war er bekannt, geradezu berüchtigt, wenn es darum ging, seinen Kopf mit unsinnigen Informationen zu füllen, die ihm aber dafür ein besseres Bild erlaubten, einen genaueren Fokus ermöglichten, wo und wie er etwas effizient tun konnte. Und der Rest war einfach Smalltalk-Material, auch wenn er die letzten Jahre eher an Telefonkonferenzen teilgenommen hatte, die ihn diese Informationen nicht abverlangt hatten.
Hätte er also mehr gelesen, hätte er mehr gewusst, wäre es ihm leichter gefallen, näherzutreten.

Der Boden war schwarz und hart, als habe jemand einen Parkplatz in diese Welt geschleudert, als habe die fremde Hand, die ein Hochhaus aus der Wirklichkeit riss, ein wenig zu viel gearbeitet. Dennoch waren die Kanten glatt, so glatt, dass Rolf sich sicher war, er würde nur Glätte finden, wenn er sie unter einem Mikroskop betrachtete.
Dennoch überschritt er die Schwelle.

Es schneite. Es war Dezember. Dutzende Menschen in dicke Kleidung gehüllt, marschierten, stampften, rannten durch die Gegend, scheuchten sich und ihre Kinder über die Straßen und Wege, hinein in Märkte und Läden, heraus aus jenen, hinein in die nächsten. Es schien das absolute Chaos zu sein. Lichterketten summten hörbar in verschiedenen Farben. Autos hupten sich gegenseitig an, als ob sie ihre eigene Sprache nicht verständen. Irgendwo in der Ferne, unterhalb einer unbekannten Kirche, dessen Uhr über dem Tor 7:30 Uhr anzeigten, sang ein Kinderchor Weihnachtslieder, die von Stiller Nacht sprachen und von Still Still Still, aber die Menschen außerhalb ihres Lichtes hörten sie garantiert nicht. Das Tohuwabohu einer frisch erschaffenen Welt hing in allen Ecken und Kanten. Rolf fühlte sich gepackt, zur Seite geschoben, gestoßen, fast schon überrannt. Er hielt sich an einer Lampe fest, deren Neon-Nikotin-Orange vom glitzernden Blau einer billigen LED durchstoßen wurde und ihn in eine Art Gitter zu hüllen drohte. Panik kroch nicht in Rolfs Herz: Sie war schon da und machte es sich in seiner Seele bequem wie ein Untermieter, der keine Lust hat, zu Arbeiten.
Rolf hörte sich selbst schreien, doch niemand hörte ihn. Sie alle waren beschäftigt.
Durch die offenen Fenster der Häuser konnte Rolf das Brutzeln des Weihnachtsbratens riechen, verbrannte Haut auf wiedererweckter Trockensauce, brodelndes Wasser, deren dicke Brühe Klöße beinhalten sollte, das Knirschen von Rotkohl, das Knirschen aufgerissener Schokoladenverpackungen und Zellophan, das Schmatzen eines unendlichen Hungers, nicht nur auf Nahrung, sondern auf Erlebnisse, auf bittere Ekstase, all dies … all dies war genau das, was ihn in die Tiefe seiner Wohnung getrieben hatte, immer und immer wieder, weil er es nicht ertragen wollte.
Seine Wohnung.
Seine Augen blickten sich um und sahen den Turm vor sich, als ob er sich hinter der halbherzigen Illusion einer angstmachenden Fantasie versteckte. Oder sahen die Bäume und Sträucher und jede Kreatur, die dumm genug war, sich ihm zu nähern, dasselbe?
Er stampfte drauflos. Seine Schultern schlugen gegen die Traumbilder, die stammelnd zurückwichen oder ihm mit Gewalt drohten, aber hatte er diese nicht schon erlebt?
Schnee kroch in seine Schuhe. Der Lärm wurde lauter, die Lampen an den Ketten leuchteten heller und heller, greller. Sie flimmerten, als wäre die unheilige Magie dazu da, ihm unbewusste Botschaften in den Kopf zu pflanzen.

Seine Hand berührte den Knauf der Tür. Er drückte. Nichts. Er drückte erneut. Nichts. Hinter ihm hörte er Lachen. Ein gemeinsames Lachen aus tausenden Seelen, ein wieherndes Lachen, das all dem entsprach, was er fürchtete. Er war nicht mehr ein Gesicht in der Masse von Gesichtern, ein Leib im endlosen Meer aus Leibern: Er stand nun offen da – und alle konnten ihn sehen. Alle konnten mit dem Finger auf ihn zeigen. Der Nagel, der aus dem Holz ragt, wird doppelt so tief eingeschlagen.
Er fühlte, wie ihm der Schweiß den Blick versengte, voller Feuer und Salz. Kälte kroch über seinen Nacken, dort, wo ihn die Stimmen und Finger und Augen berührten, wo sie seine Haut, sein Fleisch, seinen Knochen trafen. Er streckte sich, zuckte, während ihm die Kälte und Nässe den Rücken herunterwanderte.
»Ziehen«
Da stand es. Ziehen. Nicht drücken.
Rolf merkte, wie sich das Lachen hinter ihm intensivierte, wie es in seinen Körper drang, ähnlich einer langsamen Axt, die ihn halbieren würde.
Er zog.
Dann war Stille
Einfach nur Stille.
Die Tür öffnete sich.
Sein Atem kroch durch das Treppenhaus nach oben, breitete sich aus, füllte die Leere zwischen den Stockwerken mit Leben.
Jemand schritt heran, hinter ihm.
Er wirbelte herum.
Kingsur nickte ihm zu. »Es ist dein Turm, Rolf der Zauberer.«
Klaus zuckte mit den Schultern. »Hätte nie gedacht, dass du noch lebst. Du warst fast einen ganzen Tag verschwunden.«
»Nur einen Tag?«, fragte Rolf. »Für mich war das die Ewigkeit.«

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