Das Tor des Sawta Klaws – 6

Das Tor des Sawta Klaws – 6

Der Morgen kam und der Geruch hatte sich leidlich verzogen. Oder vielleicht roch Rolf ihn nicht mehr so, weil er selbst so roch. Trotzdem hing hinter allem, hinter den Wänden der Häuser, hinter den schattenhaften Bewegungen der Anwohner dieser Stadt, die nahe den Bergen hing, der Geruch des Verfalls. Es war einfach so.
Rolf hatte nie Angst vor Menschen gehabt. Er hatte sie nie als besonders gut oder schlecht betrachtet, nie als Feinde seiner Existenz. Er hatte nur versucht, sich ihnen fernzuhalten. Keine Anstößigkeiten erzeugen, wieso auch immer. Er hatte seine Probleme, auch wenn er damit immer zurechtgekommen war.
Hier war er aber nicht Rolf. Der alte fette Rolf, der in seinem Hochhaus lebte, 5. Etage, den Balkon ungenutzt, bis auf wenige Augenblicke zu Silvester, wenn er die Feuerwerke der anderen Leute betrachtet hatte, die ihr Hab und Gut reinvestiert hatten in farbenfrohes Leuchtwerk. Hier war er nicht Rolf. Hier war er Hikikomori, der Zauberer.
Rolf kannte das Wort, aber er konnte die Bedeutung nicht wiederfinden. Stattdessen fand ihn der Geschmack fahlen Brots und flachen Biers vom heldenhaften Frühstück wieder, das bei jedem Schaukeln des Pferdes unter ihm seinen Magen zu verlassen drohte.
Immer wieder blickte er sich um, schaute in fahle Gesichter, in schwache abgewandte Augen, die alles taten, um ihm auszuweichen. Oder waren es Leblang und die beiden namenlosen Extrasoldaten, die sie mitgenommen hatten, in Richtung Elbenstein, wo Hikikomoris Turm stehen sollte, sein persönlicher Turm stehen sollte.
Annea hatte ihn darüber informiert, dass es gefährlich war. »Du solltest schnell zu deinen Geisteskräften zurückkehren. Niemand hat während der letzten 200 Jahre deinen Turm betreten.«
Marie hatte ihren Bart gestreichelt und genickt. »Magie vergeht nicht. Und du warst … bist nun einmal ein großer Zauberer. Naja. Bis du dich halt geopfert hattest.«
Klaus hatte gelächelt. »Immerhin haben wir deine Knochen gefunden. Das heißt, dass du schon irgendwie gestorben bist.«
Rolf hatte seine Finger betrachtet, hatte versucht, hinter die alte weiße Haut zu schauen, tief in die geborgten Finger hinein, um einen Hauch von Magie zu erkennen, doch da hatte nichts gebrannt, nicht einmal gezuckt.
Er wusste nicht, wie er aussah. Die Fenster dieser Stadt waren dick und verklumpt, als hätte jemand das Glas einfach abkühlen lassen, dick und klumpig. Die Baracke hatte keinen Spiegel gehabt und wenn, dann hatte er ihn so übersehen, wie er den großen Spiegel in seiner Wohnung übersehen hatte, absichtlich unabsichtlich.

Sie hatten die Stadt verlassen. Es machte keinen echten Unterschied. Der Wald wirkte lebendiger als die Charaktere, die in der Stadt lebten und starben. Hier draußen war es grün, wenn gleich das Grün von einem dumpfen Grau überzogen war wie alles, was die Sonne bestrahlte, die leicht verschneit wirkte, ähnlich einer Schneekugel. Ja, alles kam Rolf vor, als wäre es Teil einer künstlichen Welt, die zehntausendfach reproduziert worden war und nun in den Zimmern irgendwelcher Kinder stand, weil sie keine Lust mehr hatten, diese zu schütteln. Rolf wollte nicht, dass die Welt geschüttelt wurde. Aber es war möglich.
Die Bäume und Sträucher waren nicht nur grau, sie trugen auch Schnee, zumindest ein wenig. Es mochte hier vielleicht Ende November sein oder doch Dezember, doch es war nicht wirklich kalt. Oder seine Haut konnte einfach keine Kälte erfahren.
Die anderen zierten sich auch nicht. Kingsur ritt voran mit seinem Neffen. Beide schwiegen, als teilten sie einen geheimen Pakt, auch wenn Rolf sich sicher war, dass Kingsur ein echtes Problem hatte, während Leblang einfach gerne schwieg.
Danach ritten er und Annea, die Tempeldienerin, Zauberin, Hexe, was auch immer. Hinter ihnen ritten Klaus und Marie. Sie unterhielten sich über irgendwelche Heldentaten, auch wenn beide garantiert versuchten, den anderen von der abgedrehteren Lüge zu überzeugen.
Als Letzte ritten zwei Soldaten, namenlos, wortlos.

Einer der Soldaten jedoch galoppierte nach vorn und glitt neben die beiden Anführer. Der Weg war gepflastert, eine Hauptstraße, die in den Norden führte. Deshalb konnte Rolf auch nicht hören, was sie redeten.
Doch Leblang drehte sich um.
»Die Elfen sind unterwegs. Sie folgen uns, im Abstand von einigen Minuten. Wir werden so weiterreiten, damit sie nicht glauben, dass wir sie erkannt haben. Seid gewappnet.«
Gewappnet. Mit was denn? Zauberei? Rolf trug weder Schwert noch Dolch noch Bogen noch Kampfstab. Offenkundig hatte er Kräfte, die er nicht kannte. Oder er war zu alt.
»Beschützt den Zauberer«, teilte Kingsur mit und betrachtete seine Begleiter mit konzentriertem Blick, die Augen zusammengezogen, dass sie nur winzige Risse in seinem Gesicht waren. Seine Narbe wirkte gerötet, als wäre ein heimliches Feuer hinter ihr gefangen.
»Natürlich«, zischte Marie. »Ich bin ja nicht aus Spaß hier.« Ihre Hand streichelte den Hammer, der am Sattel hing und das Pferd in eine eher ungesunde Seitenlage versetzte.
»Ich schon«, grinste Klaus.
Marie lachte. »Du siehst mir eher wie jemand aus, der beim geringsten Anzeichen von Gewalt unter Mutters Rock verschwindet.«
»Wessen Mutter?«
»Jeder.«
Klaus und Marie lachten, doch in ihrem Lachen hing die Konzentration zusammengepresster Muskeln, die nur darauf warteten, zu explodieren.
Annea berührte Rolfs Hand. Ihre Augen wirkten gütig, doch hinter ihnen summte die alternative Persönlichkeit – und sie war kein guter Mensch, das konnte Rolf fühlen.
»Wer bist du?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Achte nicht auf sie. Sie erscheint nur, wenn es gefährlich ist. Sie mag die Gefahr, sucht sie sogar. Aber ich tue das nicht. Ich muss dich trotzdem warnen. Sie mag keine Zauberer, besonders keine aus deiner Zeit. Die Zeiten mögen sich verbessert haben, aber ihre Schmerzen sind noch immer wirklicher als ich für sie.« Sie stockte, schloss ihre Augen, presste ihre Hand in Rolfs Hand, so dass ihre Fingernägel seine Haut durchstießen. »Ich sollte nicht mit dir reden«, ergänzte sie. »Nur, wenn es nötig ist.«

»Der Turm ist nahe«, teilte Leblang mit und streckte seine Hand aus. Rolf hätte auch ohne diese theatralische Geste die alte Heimat erkannt. »Dort oben lebte er, der große Zauberer. Seitdem ist dieser Platz verflucht. Es ist gut, dass jemand dabei ist, der sich damit auskennt.« Er blickte Rolf an. »Ich hoffe es jedenfalls. Sonst sind wir schneller tot als uns lieb ist – und die Elfen haben gewonnen, ohne dass wir überhaupt gekämpft haben.«

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