Das Tor des Sawta Klaws – 5

Das Tor des Sawta Klaws – 5

»Warum ist es offen?«
Kingsur schaffte es, mit den Schultern zu zucken, zumindest einen Hauch.
Annea redete für ihn. »Es war eine Vision, die wir teilten. Ich war unterwegs zwischen Amberg und Klingtol, ich stand an einer Weggablung. Es war kalt. Meine Gefährtinnen waren bereits davongeeilt. Der Tag war trübe geworden, als wäre es weiter im Jahr. Und da sah ich es.« Sie schluckte. »Es war ein Riss im Himmel. Glatt wie eine Tür. Diese Tür wurde langsam geöffnet. Ich konnte mich nicht bewegen, ich war starr vor Angst. Aus der Tür, aus der Finsternis hinter der Tür kroch etwas. Es trug die roten Augen des Sawta Klaws.«
Leblang stoppte sie. Er betrachtete seinen Becher, der noch immer fast voll war.
»Das ist ja schön und gut. Aber Visionen sind so eine Sache. Manch einer hat sie nie, der andere jeden Tag. Manchmal träume ich von den Feldern der Westmark, dort, wo die Schatten durch die Gräben ziehen und die Toten aufrichten. Das heißt aber nicht, dass ich zu den Waffen greifen und eine Horde Feldzauberer hinschicken muss, um sie zu beruhigen.«
»Selbst ich hatte diese Vision«, teilte Marie mit. »Doch ich war in der Tiefe, hunderte Meilen entfernt von Amberg oder Klingtol. Ich hing 50 Meter in der Tiefe, an einem Seil und ich kratzte gerade einen Smaragd aus dem Felsen. Doch dann bewegte sich der Smaragd und ich ließ ihn fast fallen. Doch mein Blick in den Abgrund zeigte mir eine Tür und den Klaws.«
»Und ihr wollt jetzt in den Norden ziehen, und die Tür schließen, die bereits auf ewig geschlossen wurde?«
»Jede Tür lässt sich öffnen«, meinte Klaus und grinste. »Dafür ist es eine Tür. Oder ein Fenster. Oder ein Tresor. Alles mit Tür, alles mit Fenster, jedes Objekt, das nicht 6 Wände hat, ist dafür da, dass jemand hineinschaut.
»Oder herauskommt«, ergänzte Kingsur.
»Ihr klingt wie die Elfen«, sagte Leblang. »Die predigen seit Jahren, dass der Klaws wiederkommt in Herrlichkeit und Gerechtigkeit. Aber am Ende ist es dann wieder eine Apokalypse, ein Untergang. Warum es offen ist, weiß also niemand?«
»Sicher weiß es jemand. Aber man sagt es uns nicht, weil wir nicht danach fragen.«
»Und euer alter Freund?«
»Das ist Hikikomori, der Zauberer. Er hört auf den Namen Rolf.«
»Rolf. Hikikomori ist eine Legende. Eine tote Legende. Ich mag keine Liches hier, Onkel.«
»Er ist kein Lich, Neffe.« Das letzte Wort enthielt ein deutliches Zischen. »Es gibt eine Prophezeiung und mit ihr war ein Platz und eine Seele verbunden. Und diese Seele fanden wir an diesem Platz und es war Rolf. Oder Hikikomori.«
»Er redet nicht«, teilte Marie mit. »Oder kaum. Er scheint noch immer verwirrt zu sein.«
»Du willst mir sagen, Onkel, dass vor mir der alte Zauberer aus dem Elbenstein-Turm sitzt, der ihn 200 Jahren nicht verlassen hatte und der sich dann aufmachte, den Klaws das letzte Mal zu vertreiben?«
»Ich glaube, er hat wirklich kaum Kontakt zu Menschen«, antwortete Marie. »Seine Augen starren auf den Boden und sein Gesicht ist so hart, dass selbst die Raben keine Möglichkeit hätten, ihm das Fleisch von den Knochen zu reißen. Seine Seele ist jedenfalls da und er kann reden und er hat sogar den Ruprekt-Typen abgelenkt, dem ich dann den Krug über den Schädel schlagen konnte. Das gute Bier.« Sie klang traurig.
»Also wenn ich mit entsinne, dann ist der Elbenstein-Turm nur einige Wegstunden entfernt. Ich werde euch begleiten.«
»Du und welche Armee?«, fragte Kingsur.
Leblang lachte. »Ich bin meine eigene Armee, Onkel. Im Gegensatz zu dir habe ich keinen Eid geschworen, mich keinem Gott unterworfen. Ich bin Soldat, weil ich das Geld nehme, das man mir gibt. Und auch wenn ich damit keine Unterstützung erwarten kann, wenn die Klinge auf mich herabfährt, so weiß ich doch, dass Geld weniger launisch ist als irgendein Gott, der meinen Tod bereits vor Jahren geplant hat.«
»Atheist, ja?«, fragte Rolf.
»Agnostiker. Auf jeden Fall. Ich bestreite die Existenz der Götter nicht, aber nur nicht, weil ich keinen Grund dazu habe. Manch ein Priester ist der vergifteten Klinge eines seiner Diener oder Mitstreiter zum Opfer gefallen. Sie predigen Wein und trinken Blut.«
»Du klingst anders als früher, Neffe.«
»Ich bin anders als früher. Aber auch du scheinst dich geändert zu haben. Deine Augen blicken nicht mehr voller Feuer in die Welt hinaus.«
»Meine Augen sind müde.«
Dann lasst uns schlafen gehen. Morgen ist ein Tag und der Elbenstein-Turm steht auf einem Felsen, den die Pferde nicht erklettern können.«

Sie teilten sich alle eine Kammer, bis auf die beiden Damen, die sich den Gästeraum teilen konnten.
Rolf starrte an die Decke, versuchte, die letzten Stunden zusammenzukleben, um eine Einheit zu bilden, eine Einheit von Gedanken, die ihn als Menschen und nicht als Opfer eines fernen Schreiberlings sahen, doch am Ende war er sich der Unlogik jeglicher Aktion sicher. Er war nicht hier. Er war daheim und tot und in einer Zwischenhölle gelandet. Er lag auf seinem Bürostuhl, der Computer lief, die Fliegen, die aus dem Mülleimer kletterten, fanden bereits ein Mahl für sie vorbereitet. Nach Stunden trat normalerweise die Leichenstarre ein. Fliegen bohrten ihre Eier in seine Augen. Niemand würde ihn vermissen. Es war Wochenende. Oder Weihnachten? Für ihn hatten solche Begriff keine Bedeutung mehr. Tag und Nacht waren gleich. Und nun war er hier, in dieser stinkenden Welt umgeben von unrealistischen Figuren, die alles taten, um irgendeiner Quest zu folgen, die sich ein D&D-Dungeonmaster aus den Fingern saugte.
Ihm wurde außerdem gewahr, dass er nicht erwarten konnte, diesen Elbenstein-Turm zu sehen. Hikikomori, der Zauberer, sollte dort gelebt haben, die Figur, die seine Seele nun beinhaltete, ein Topf ohne Deckel, dafür mit genug Löchern, um herauszufließen. Rolf schloss die Augen und versuchte, sich auf ein Bild zu einigen, das er darstellen sollte. Stattdessen hatte er Hunger. Und er musste aufs Klo. Gleichzeitig. Selbst das Leben hier, in dieser Welt der Fantasie, war geprägt von Menschlichkeiten. Viel zu vielen Menschlichkeiten, seiner Meinung nach. Bald würde er sein kümmerliches Dasein in seiner alten Welt vergessen haben. Bis dahin musste er lernen, dass diese fremde Welt so viel fremder war als alles, was er je erlebt hatte.
»Schläfst du, Rolf?«, fragte Klaus.
»Nein«, antwortete Rolf.
»Gut. Ich will nur sagen, dass ich schon viel von dir gehört habe. Natürlich ist das lange her. In der Schule. Wir haben deinen Kampf gegen den Klaws nachgespielt. Meistens hat er aber gewonnen.«

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