Das Tor des Sawta Klaws – 24 – Finale

Das Tor des Sawta Klaws – 24 – Finale

Die Wand.
Er war nahe der Wand. Oder er war in der Wand bereits wieder.
Er war dort, wo er am Anfang gewesen war. In seiner Wohnung. Allein. Der Computer lief, zeigte irgendwelche Videos über Weihnachtsbräuche an. Oder irgendein Spiel. Es war ihm gleich.
Er war nicht allein.
Die Gestalt, die an der Tür stand, war alt, sehr alt. Und sie trug einen roten Umhang und weiße Stiefel. Und sie trug einen Bart.
»Wer bist du?«, fragte Rolf. Seine Stimme hörte sich falsch an, ebenso alt wie die des Mannes, der ihm antwortete.
»Ich bin der Sawta Klaws«, meinte er. »Dass du dich nicht erinnern kannst, ist mir klar. Sind ein paar hundert Jahre vergangen, nicht wahr?«
»Äh«, antwortete Rolf.
»Sie werden dich töten«, sagte der Sawta Klaws. »Sie werden dich in die Wand werfen in der Hoffnung, dass sie mich damit aufhalten.«
»Die Wand hat dich aufgehalten, seit damals«, antwortete Rolf, der Hikikomori war oder auch nicht.
»Die Wand wird schwächer mit jedem Augenblick. Ruprekt hatte recht, auch wenn er nicht wirklich ist. Er ist nur das Buch meiner Geschichten, das in dieser Welt für eine Menge Probleme geführt hat. Sie haben dich aus deiner eigenen Hölle gerettet, für eine Aufgabe, die völlig dämlich war. Dumm und dämlich. Aber ich bin ihnen dankbar. Ich werde Ruprekt zu meinem Knecht machen und die Elfen werden wieder dafür sorgen, dass Ordnung herrscht.«
»Keine Gerechtigkeit?«
»Pah«, lachte der alte Mann, der nun nähertrat und sein Schattengesicht verlor. Er trug die verzerrten Gesichtszüge einer Ziege. »Gerechtigkeit gibt es nie. Nur das Gesetz. Wer sündigt, wird zum Diener für vielhundert Tage. Ich bin das Feuer, das ihnen den Willen zur Sünde aus dem Fleisch brennt.«
»Du bist also ein Dämon? Ein Teufel?«
»Solche Worte kenne ich nur aus den Träumen aus eurer Welt. Und nun schweig. Du hast nichts zu tun, nur zu sterben.«

Rolf fühlte die Wahrheit der Aussage in seinem Kopf, doch der alte Zauberer mit dem langen Namen antwortete für ihn. »Ich werde dich in die Hölle zerren, so ich kann.« Dann wurde Rolf von seinem eigenen Körper zur Seite geschleudert, dorthin, wo ein Fenster darauf wartete, erst in Monaten geöffnet zu werden. Der Aufprall war hart und schmerzhaft und hinterließ eine grelle eisige Wunde in seiner Schulter. Seine eigene Faust hämmerte auf sein Gesicht ein. »Wach auf! Wach auf!«
Rolf erwachte. Schneebälle schossen aus der Finsternis heran, erwischten ihn und den Esel, auf dem er lag. Ruprekts Gesicht auf dem anderen Esel lachte leise. »Bist also nicht tot.«
Weitere Schneebälle schossen durch die Gegend, doch es war niemand zu sehen.
»Das ist die Wand«, fluchte Leblang.
»Offenkundig machen Kinder eine Schneeballschlacht«, teilte Ruprekt mit. »Sehr passend, nicht wahr?«
Ein Schneeball traf Rolf so stark im Gesicht, dass dieser vom Esel rutschte.
»Verdammt«, fluchte Leblang. Er blieb stehen und wanderte um den Esel herum.
Rolf rammte ihm den Kopf gegen das Kinn. Leblang taumelte zurück und krachte in den Schnee. Rolf blickte sich nicht um, sondern rannte einfach los, irgendwie in den Wald hinein. Hinter ihm schrien Kinsur und Annea, doch ihre Stimmen verhallten unter dem Rauschen der Autos, die über die dreckig glitzernden Straßen der Großstadt fuhren. Passanten fluchten lautstark und zerrten fallengelassene Taschen wieder hoch. Raucher standen an Laternen und lachten lautstark, während leere Bierflaschen neben den Mülleimern landete.
Dann war Rolf wieder im Wald. Sein Atem brannte. Hinter ihm hörte er die panischen Rufe der anderen, die ihn verfolgten, aber offenkundig von der Wand terrorisiert wurden. Doch auch sie hatten die Wand bald durchstoßen, wenngleich voller Panik, wie Rolf hören konnte.
Wieder traf ihn die Wand. Laternen glitzerten im Nieselschnee. Weihnachtslieder drangen aus offenen Fenstern in die Welt hinaus. Irgendjemand schrie: »Früher war da mehr Lametta!« Alle lachten. Lebkuchengeruch bohrte sich in Rolfs Nase, gefolgt vom Geschmack gebrannter Mandeln. War das wirklich die Hölle? Oder war das nur Klischee?
Er blieb stehen. Natürlich. Alles war mit einem Mal so klar wie nie zuvor.
Die anderen stießen durch die Wand. Weinten. Gingen in die Knie. Blieben vor ihm stehen, Tränen in den Augen.
»Töten wir ihn«, zischte Annea. »Damit schließen wir die Wand.«
Irgendwo in der Ferne öffnete sich ein Tor. Es war gar kein großes Tor, kein Tor von Giganten für Giganten erbaut. Es war ein kleines Tor, mehr eine Tür, vielleicht recht niedrig.
Die Wand bebte, verschob sich für einen Augenblick.
»Nein!«, keuchte jemand. Marie zerrte Klaus mit sich, dessen Gesicht verfiel und gleichzeitig neu erbaut wurde, als ob er erkannt hatte, wie sehr er Figur und wie wenig Mensch er war. Marie hielt die Axt vor sich, bereit jeden niederzustrecken, der Rolf angriff.
»Es gibt einen anderen Weg«, sagte Rolf. Er schloss die Augen, konzentrierte sich auf einen Punkt und öffnete sie wieder. Schritte kamen näher, jeder von ihnen schien die Welt aus den Fugen heben zu wollen.
»Der Sawta Klaws«, meinte Kinsur und ging in die Knie. »Wir haben versagt. Er ist frei. Nun wird es endlose Sklaverei geben, für alle Zeiten.«
Ruprekt lachte. »Die Ewigkeit erwartet uns alle.«
Die Schritte näherten sich weiter.
»Ihr müsst etwas verstehen«, sagte Rolf. »Euer Sawta Klaws wird immer entkommen können. Solang er hier ist, ist er eine Gefahr. Und du, Annea, willst das, nicht wahr?«
»Ohne die Wand, ohne mein zweites Ich«, meinte sie und stoppte kurz, »ohne sie bin ich nur ein halber Mensch.«
»Geht«, sagte Rolf. »Oder haltet zumindest Abstand, ja?«
»Was wirst du tun?«, fragte Marie.
»In eurer Welt habt ihr angst, aber ich habe nicht vor, euch dieser Angst auszuliefern. Hikikomori, der Zauberer, hatte einen Plan, doch dieser Plan war eine Plan voller Zweifel, er konnte ihn nicht bis zum Ende durchziehen. Ich kann.«
Rolf drehte sich um und blickte den Sawta Klaws an, der vor ihm stand, ein alter Mann mit dem Gesichtsausdruck völliger Verachtung, absoluter Kälte, unmöglich zu bestechen oder zu beschwören.
»Geht! Geht verdammt!«, schrie Rolf. Dann packte er den Sawta beim Bart und zog daran.

Rolf stand an seinem Fenster und blickte hinaus in die winterliche Welt. Vor dem Haus war ein Weihnachtsmarkt und vor diesem, dort im Schatten, stand jemand, der aussah wie ein Weihnachtsmann, die Hände wütend erhoben. Neben ihm stand ein anderer Mann, schmal und hoch, der versuchte, ihn zu beruhigen. Und dort, in einer Ecke waren zwei Frauen, die sich in den Armen lagen, als wären sie aus einem Traum erwacht.
Rolf lächelte und nahm einen Schluck Glühwein. »Weihnachten ist nur eine Hölle, wenn wir sie dazu machen«, meinte er und blickte ins Nichts hinaus, und irgendwo, als Abschluss im Klischee, raste eine Gruppe von Rentieren über den sternüberzogenen Himmel.

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