Das Tor des Sawta Klaws – 23

Das Tor des Sawta Klaws – 23

Der Abstieg war schnell, gelinde gesagt, unmöglich schnell. Eine Wand aus Eis krachte unter ihnen und trug dazu bei, dass sie, ähnlich einer Insel, in die Tiefe rutschten, groß genug, dass keiner zurückblieb, klein genug, um irgendwann einen Punkt zu finden, an dem sie stoppte.
Wolken von Schnee und Steinstaub folgten ihnen, hüllten sie ein, brachte sie hustend zu Boden. Das Knirschen von zerborstenen Bäumen rollte durch die Umgebung, unterbrochen vom Grunzen Maries und vom Jaulen der beiden Esel.
»Weiter gehts«, teilte Kinsur mit. »Ich fühle, wir haben kaum noch Zeit.«
»Ach Zeit«, sagte Ruprekt und spuckte aus. Er war vom Esel gefallen und mochte das wohl eher gar nicht.
»Die Figur«, fluchte Klaus. »Die Figur ist weg.« Sein Gesicht zeigte deutliche Panik an, sein Gesicht war noch nie so verzerrt gewesen, nicht einmal im Kampf gegen die Elfen. Er schlug seine Handflächen in den Schnee, suchte hier und da, wirbelte noch mehr Schnee auf, doch er fand nichts. »Verdammt, verdammt.«
»Wir suchen später«, teilte Leblang mit, der sich aufrichtete und den Schnee von seiner Rüstung klopfte. »Ich sehe Lichter am Ende des Waldes.«

Mühsam kamen sie nun voran, da der Schnee wenigstens knietief zwischen den Bäumen hing. Büsche wirkten wie Fallen für ihre Stiefel, brachten sie zum Staucheln. Hin und wieder lösten sich dicke Brocken von den Ästen und krachten auf die Gruppe nieder, die daraufhin in Deckung ging.
Es mussten Stunden vergangen sein, bis die Lichter am Ende des Waldes wirklich zu Fenstern wurden, hinter denen Kerzen brannten, Feuer in Kaminen zuckten, in denen Holz zerbarst und wunderschöne Bilder erzeugte, die nicht wirklich sein konnten.
»Die Wand ist nah«, teilte Annea mit. »Sie wird stärker, meine Gefährtin wird wirklicher.« Sie blieb stehen und schaute sich um.
»Da wurde ich geboren«, sagte sie. »Dort, hinter dem Marktplatz, in der Nähe des Hafens. Gehen wir.«

Die Stadt war lebendig, zumindest wirkte es so. Menschen wanderten mit Kerzen durch die Straßen. Einige sangen Lieder, andere hielten sich in den Armen und betrachteten das Meer.
»Sie erwarten die Schiffe zurück. Es ist bald Winterfest und sie möchten ein Licht sein für ihre Freunde und Verwandten.« Marie rieb sich eine Träne aus dem Gesicht. »Heute ist der kürzeste Tag des Jahres hier in der Gegend. Dann gehen sie alle heim und sie feiern. Aber sie feiern leise, denn sie wollen den Sawta nicht wecken. Um diese Zeit ist er besonders lebendig, wo auch immer er ist.«
Als die Gruppe aus dem Schatten der Häuser trat, wurden sie gewahr, dass viele der Menschen sie nicht beachteten, noch mehr, dass sie durch sie hindurchglitten wie Geister.
»Das ist die Wand«, meinte sie. »Ich kann sie fühlen. Sie bebt. Sie lebt. Sie will, dass wir den Sawta freilassen.«
»Und dann?«
»Dann wird die Wand frei sein. Aber ich weiß nicht …« Sie stoppte. »Ich weiß nicht, was dann geschieht.«
»Freiheit und Liebe und Dankbarkeit«, lachte Ruprekt. »Und ewige Gerechtigkeit.«
»Blödsinn«, sagte Rolf. »Absoluter Blödsinn. Am Ende wird es Vernichtung geben.«
»Ach, spricht Hikikomori mal wieder, ja?«, antwortete Ruprekt. »Es war nicht schwer, festzustellen, wer du bist. Auch wenn du dich versteckst, du Bühnenmagier. Wie kommst du aus der Wand in die Welt zurück?«
»Magie«, sagte Rolf. »Simple Magie.«
»Nein. Deine Gefährten müssen etwas getan haben, das die Grenzen der Wand überwunden haben muss. Oder sie hatten eine Harpune, um dich zu packen und in diese Welt zu ziehen. Das Buch des Sawta ist eindeutig. Keine Magie existiert im Nichts. Vielleicht hat das Öffnen des Buchs die Wand etwas geschwächt und das Tor einen Hauch geöffnet – aber deine Befreiung hat ihnen vermutlich mehr geschadet als das.«
»Wie meinst du das? Dass sie die Wunde weiter aufgerissen haben, um mich hierherzuholen.«
Ruprekt antwortete nicht, aber sein Grinsen sagte alles.
»Und jetzt sind wir hier, weil …«
»Sie wollen dich in die Wand zurückwerfen in der Hoffnung, dass du das Loch stopfst.«
»Ist das die Wahrheit?«, fragte Rolf und drehte sich um.
»Das war nicht … unser Plan. Nein, das war er nicht.« Kinsur stand aufrecht da, das Gesicht im Licht einer Fackel, welche den Weg beleuchtete. »Auch wenn es logisch klingt.«
»Ihr glaubt einem Anhänger eures Sawta Klaws?«, fragte Rolf.
»Logik hat nichts mit dem zu tun, der sie ausspricht«, teilte Leblang mit.
»Das ist nicht gut«, sagte Klaus, »gar nicht gut. Hören wir auf einmal auf irgendeinen Idioten mit magischen Kräften?«
»Marie?«, fragte Rolf.
»Ich bin dagegen. Wir opfern niemanden. Wir sind keine religiösen Fanatiker.« Sie packte den Griff ihrer Axt, ihre Faust knirschte.
»Annea?«, fragte Kinsur. »Wir müssen es tun.«
Sie nickte, langsam, als ob ihr Kopf unfähig war, etwas anderes zu tun, als wäre sie nicht mehr Teil ihrer eigenen Existenz.
»Dann werfen wir ihn …«
»Auf keinen Fall«, zischte Klaus. Er hatte bereits zwei Messer in den Händen.
»Dann bleibt mir keine Wahl«, meinte Leblang und griff in seine Tasche. Als er sie herauszog, hatte er die Figur zwischen seine Finger geklemmt. »Ich mag dich eh nicht.« Er hob seinen Arm und warf die Figur in eine der Fackeln.
Es zischte laut, als ob jemand Magie verbrannte. Klaus schrie. Sein Gesicht verformte sich, als wäre es nicht mehr das seine.
Marie fluchte, ließ ihre Axt tanzen, doch sie konnte nichts tun. Aus Anneas Körper trat eine andere Gestalt hervor, die versteckte Gestalt der fernen Welt. Sie packte Marie bei der Kehle, glitt dabei durch ihren Bart, als wäre er nicht wirklich. Marie wurde in die Ferne geschleudert, zerschlug dabei einige Fackelhalter und selbst die unwirklichen Bewohner der Stadt verharrten kurz, als ob sie Marie gespürt hatten.
»Es tut mir leid«, teilte Kinsur mit. Seine Faust traf Rolf direkt auf dem Kinn, welches offenkundig explodierte.
Rolf fühlte, wie seine Füße den Boden verließen, wie er endlos dahinschwebte, ähnlich der verformten Figur, die Leblang gerade zu Boden fallen ließ wie ein Stück Unrat, an dem er sich die Finger schmutzig gemacht hatte. Den Aufprall spürte Rolf nicht mehr wirklich, nur den Abdruck der Verwirrung, der dort zurückblieb, wo sonst sein Verstand saß. Irgendwo in der Ferne geschah sicher etwas, aber dieser Teil von ihm schwebte jenseits der Beobachtungsfähigkeit seines Körpers. Dann war ihm alles egal.

 

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