Das Tor des Sawta Klaws – 22
Die Berge schienen endloser zu sein als die Ebene selbst und Rolf fand sie erneut tief in Gedanken wieder, was schlecht war, denn irgendwann bekam er nichts mehr von der Umwelt mit – bis er auf einen Steinblock trat, der nicht mehr ganz am Felen befestigt war. Gut, das hätte man wissen können, der Riss war tief und breit, aber er trat trotzdem darauf. Vielleicht war es aber auch nur Zorn oder Wut, er unterschied beides nicht mehr. Er starrte in die Tiefe, in die er fast gefallen wäre, wenn ihn nicht Marie gepackt hätte.
»Was soll das?«, fragte sie. Ihr Bart war weiß von Schnee und ihre Kleidung machte sie noch kleiner, als er sie in Erinnerung hatte.
»Nichts«, murmelte er.
»Darüber reden wir, wenn wir Rast halten. Es kann nicht sein, dass du dich gefährdest, während wir alles tun, um dich zu Sawtas Tor zu bringen.«
Rolf wollte antworten, dass er nicht freiwillig hier war, aber er hielt den Mund und achtete den Rest des Tageslichts darauf, nicht noch einmal vom Weg abzukommen.
Es war schwierig, sehr schwierig, auch ohne Maries Zurechtweisung. Die Berge waren voller Schnee und Eis. Die freiliegenden Felsen trugen einen blauen Schimmer, der den dumpf-grauen Himmel widerspiegeln wollte, dabei aber versagte. Der Wind schoss von allen Seiten heran, tanzte um die Wanderer herum. Die Pferde hatten sie im Tal lassen müssen, in einem Dorf, das sehr viele Pferde in Ställen hatte, sodass sie kaum etwas für diese bekommen hatten. Zwei einsame Esel, vermutlich die letzten, die verfügbar waren, wurden nun zu den einzigen Tragetieren in dieser feindlichen Umgebung. Und auf einem von ihnen hing Ruprekt, der sich kaum rührte und Rolf nicht wusste, ob er lebte oder nicht. Aber sicher würde Ruprekt überleben, siehe die Sache in der Hütte.
Einzelne tote Büsche starrten in den Abgrund auf der rechten Seite des schmalen Pfads, der wenig erlaubte, noch weniger Ausweichmöglichkeiten.
Als sie endlich hielten, nahmen sie Platz in einer herausgemeiselten Höhle, die kaum ein paar Meter Tief in den Berg ging. Hier fanden sie Holz und bald schon flackerte ein gemütliches Feuer, wenn gleich es unwirklich wirkte. Eine Flasche Branntwein wurde sorgsam geöffnet und jeder erhielt ein paar Tropfen in seine Tasse.
Das und der Schnee im Hintergrund, der sanft dahinsegelte erinnerte Rolf an das Abbild eines gemalten Desktophintergrunds zu Weihnachten. Fehlte nur noch ein Schauspieler, der zwei Stunden lang Islay-Whiskey trank. Und irgendwo würde leise Weihnachtsmusik gespielt werden.
»Das ist vermutlich das letzte Mal, dass wir wirklich schlafen können«, meinte Kinsur. »Der Abstieg beginnt morgen und dann sind wir schon fast da. Niemand weiß wirklich, wie es dort ist, wo wir hingehen.«
»Doch«, antwortete Annea. »Wie du weißt, komm ich von dort. Einige große Städte haben sich an der Küste versammelt. Nach Westen fahren die Schiffe und im Norden, vielleicht einen Kilometer entfernt, steht der Monolith, der Berg aus Basalt, der so aussieht wie Zuckerwerk, rot und weiß und er glitzert im Sommerlicht. Die Wand wächst und schrumpft, wie sie es mag, wie der Herzschlag eines schlafenden Giganten. Vermutlich ist es der Sawta Klaws, das erzählten wir uns immer. Ich gehöre ja zu den Opfern«, meinte sie und stocherte im Feuer. »Als Kinder sind wir immer bis an die Grenze gegangen. Man konnte sehen, wo die Wand endete, wie sie sich bewegte. In den Bäumen konnte man sie sehen, die Geister der anderen Welt. Sie rannten umher, ohne jegliche Kontrolle über ihre Bewegung, als würden sie endlos etwas suchen und nie finden. Aber ich wusste, was sie waren. Sie waren der Abdruck der anderen Welt, wie ein Bild, das jemand malt, das einen einzelnen Augenblick beschreibt oder eine kurze Zeit, vielleicht einen Sonnenuntergang. Ein Sonnenuntergang dauert nie ewig, nur auf dem Bild. Für meine Gefährtin auf der anderen Seite ist es jedoch die Hölle, so gefangen zu sein. Und das wegen dem Kampf der Menschen gegen den Klaws.«
»Gebt ihn frei«, meinte eine Stimme von einem der Esel her. »Gebt mich frei. Ich werde euch die Lösung zeigen.«
»Pah«, warf Leblang ein. »Du hälst mal schön deinen Mund, Untoter.«
»Untot bin ich? Das wusste ich gar nicht«, kicherte die Stimme. Der Schatten eines Kopfes bewegte sich vor dem Eingang der Höhle. »Ich habe die Wahrheit erkannt.«
»Und das tötet Leute.«
»Leute sterben immer. Die Ewigkeit braucht Nahrung, wie ein Tier Futter. Die Ewigkeit ist hungrig.«
»Was geschieht mit den Leuten, die dir folgen? Die Umhänge sind leer. Ich habe Menschen gesehen, die Teil deiner Armee wurden.«
»Menschen sind dann wichtig, wenn sie an etwas glauben. Dann werden sie zum Teil der Umhänge, zum Teil der Kutten, zum Teil der wahren Weihnacht. Ihre Seelen werden Teil der Geschichte, wieso brauchen sie dann noch Körper.«
»All die toten Leute«, murmelte Klaus. Rolf konnte hören, wie Klaus den Griff eines seiner Messer packte.
»Daran denkst du doch auch, Puppe eines fernen Spielers. Eure Stadt ist nur ein Spiel. Und du bist nur eine Imagination«, lachte Ruprekt. »Ich kann deine Gedanken besser lesen als du selbst. Ein Teil von dir will leben, der andere will erzählen. Doch beide Teile vertragen sich nicht. Doch was ist am Ende noch übrig, wenn du stirbst? Dann schmelzen deine Erinnerungen dahin wie Schnee im Regen, wie Zucker im Fluss. Dem Fluss ist es egal, ob du Teil von ihm geworden bist. Ich bin nur der, welcher euch in die richtige Richtung lenkt. Hört nicht auf mich.«
»Schweig doch«, teilte Kinsur mit. »Du warst mein Freund.«
»Und ich bin es noch. Doch du hast das Buch geöffnet. Und ich bin Teil des Buchs geworden, als du mich ermordet hast, als du meine Seele und die Seele des Buchs vereint hast. Du hast aus dem Ruprekt aus den Geschichten einen echten Ruprekt gemacht. Siehe, ich war Teil des Ruprekts, den ihr im Wirtshaus zu Boden geschlagen habt, so wie meine Elfen Teile der Gesichtslosen waren, die ihr auf der Straße gesehen habt. Es gab viele Sekten da draußen, die meinten, dem Sawta Klaws zu gehören. Ich bin die Summe all dieser. Du hast mich erschaffen.«
»Und ich kann dich töten. Ich kann dich begraben, hier in dieser Höhle oder in einem Abgrund«, fluchte Kinsur.
»Das bestimmst nicht du«, sagte Ruprekt und starrte in die Ferne. »Das wird jemand anders tun.«