Das Tor des Sawta Klaws – 20

Das Tor des Sawta Klaws – 20

Sie diskutierten nicht, zumindest nicht lang. Am Ende war die Abstimmung fast eindeutig, bis auf Kinsur: Man würde Ruprekt knebeln und fesseln und mitnehmen. Nichts war ohne Sinn und so einen Braten wie Ruprekt im Ofen zu haben, würde sicher helfen.
Kinsur war sich trotzdem nicht sicher. Nein, er war durchgehend unglücklich hinsichtlich der Entscheidung und ließ das auch alle wissen.

Dennoch erreichten sie bald das nächste Dorf, das so langweilig war, dass man es nur als ausgeschnitten und einkopiert ansehen konnte. Fast schon so winzig, dass es nicht existent war, gab es eine Straße, die nach rechts abwich, während ein Weg geradeaus führte und am Ende, hinter zwei Häusern, eine Schmiede anzeigte, daneben eine andere Werkstatt, aus der Funken und Farben krochen. Die Haupstraße führte, wie schon gesagt, nach rechts, vorbei ein drei Häusern auf einer Seite, auf der anderen Seite ein paar Bäume. Ein Brunnen zeigte, wo der Markt lag, von dem auch nur zwei Gassen abgingen, die sich sicher irgendwo überschnitten. Der Rest der Straße führte weiter nach Norden.

Sie wollten direkt weiterreiten, aber irgendjemand schien in den Brunnen gefallen zu sein und niemand war schmal genug, in die Tiefe zu klettern. Alle blickten die Neuankömmlinge an, Bauern in dunkler Kleidung, unwillens, überhaupt feiern zu können. Der Bürgermeister, als einziger sichtbar, trug eine Schärpe mit dem Aufdruck »Burgomaster«, was für Leute, die keine Ahnung von US-Filmen hatten, durchaus lustig hätte sein können, aber das war es nicht. Es war fremdschämig.
»Helft uns, Helden!«, heulte jemand aus der Masse. »Helft uns!«
»Was können wir tun«, fragte Kinsur, der bereits in den Brunnen starrte.
»Ssulhcsver!«
»Ja?«, hörte man eine Stimme aus dem Brunnen.
»Was können wir tun?«
»Nichts. Ich sitze fest. Wir werden alle sterben.«
Marie betrachtete den Brunnen, den Brunnenrand. Ihre Finger wanderten über den Stein, der knapp einen Meter hoch war, berührten die Lücken und Kanten des alten Bauwerks. Dann schüttelte sie den Kopf. »Der Umfang ist zu klein für uns. Außer für Rolf vielleicht. Oder für Annea.«
Annea starrte in die Tiefe. »Ich komm da garantiert nicht rein«, meinte sie.
»Aber deine andere Person?«
Annea blickte ins Nichts. »Vermutlich geht das, aber …«, sie schwieg. Dann redete sie weiter. »Die Andere ist nicht von dieser Welt, sie kann nichts berühren.«
»Aber ich kann«, meinte Rolf.
»Ja, das ist möglich«, meinte Kinsur. »Und es macht auch Sinn.«

Die Menschenmenge trat zurück, als Annea ihre Magie ausbreitete. Blaue Ströme rasten durch die Luft, verwandelten sich in verschiedene Wesen, bekannt und unbekannt, ein Feuerwerk unmöglicher Natur. Aus diesem Vorhang aus Illusionen trat die andere hervor. Sie trug diesmal die typische Kleidung eines Dezembertages und auf ihrem Gesicht lag ein Hauch von Angepisstsein. »Na?«, fragte sie. Ihre Stimme hatte die Qualität einer 90er Jahre Teenager-Sitcom, aber sie wirkte älter, vermutlich war sie GenX oder sowas in der Art.
»Dann pack mal meine Finger, Rolf der Zauberer«, meinte sie und grinste zynisch.
»Danke«, antwortete Rolf.
»Danke für nix, nicht wahr?«, fragte sie, dann grinste sie.
Rolf fühlte sich an den Händen gepackt und in die Luft gehoben. Ein Teil von ihm schien zurückzubleiben, eine Person, die er nicht war.
Und gleichzeitig war er hier, also hier in der Wirklichkeit, in seiner Wirklichkeit, die er bereits im Turm erlebt hatte. Offenkundig hatte der Turm ihm nichts anderes gezeigt als die Regeln der Wand, der Wirklichkeit, die er sowieso kannte. Sicher hatte es im Turm auch Texte gegeben, irgendwelche Bücher oder Geheimnisse, die Rolf für seinen (erneuten) Kampf gegen den Sawta Klaws gebraucht hätte, aber nun war es eh zu spät.
Er fühlte die nasskalte Dezemberluft, den Abend des 23. Dezembers oder fast den 24. Dezember, einige Augenblicke vor 17 Uhr, wenn die Welt offiziell Weihnachten beginn, auch wenn andere meinten, dass das Fasten erst mit der Mitternacht zum 25. Dezember enden würde. Der Geruch von Abgasen, die sich im verdreckten Schnee sammelten, wurden durch die vieltausend Reifen nach oben befördert in einen von Flugzeugen und Satellitenwolken eingesperrten Himmel. Diese Welt war eine Schneekugel, mit Firmament und nichts darunter. Es war eine Art Hölle, ein endloses Aneinanderreihen von Panikkäufen, Baumschmückungen, verzerrten Weihnachtsmärkten mit grotesken vergessenen Liedern voller Autotune und Sadismus. Und hier lebte sie also und Rolf irgendwie auch, denn auch wenn er sich an andere Tage und Wochen und Jahre erinnerte, so konnten diese doch falsch sein, eine Mischung aus Dark City und Last Thursday-ism, was darauf hinwies, dass das Jahr doch nicht 2022 war, sondern vermutlich 2021 oder 2020. Und gleichzeitig auch nicht. Er erinnerte sich an diese beiden Jahre, aber die Städte schienen damals leer gewesen zu sein, apokalyptische Vergessenheit vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Pandemie. Vermutlich war es 2013 oder 2015 in dieser Welt oder vielleicht 1995. Das Grauen selbst war alterslos.

»Hey«, brüllte eine Stimme vor ihm.
Rolf erwachte von ihr und öffnete die Augen. Er war im Brunnen, hing mit dem Kopf voran in der Finsternis, umgeben von dumpf glänzenden Steinen. Ein Gesicht starrte ihn an, so nichtssagend wie ein kleines Steak.
Rolf streckte seine Arme aus, bekam die nach oben gestreckten Arme des Mannes zu fassen und zerrte an ihm.
Es war schwieriger als gedacht. Offenkundig steckte der Mann wirklich in einem Loch oder in Treibsand.
»Strampel mit den Beinen?«, fragte Rolf, sichtlich erschöpft, zumindest glaubte er das bereits.
»Ja, ich bemüh mich ja«, zischte der Mann und bewegte sich hin und her, als wäre er Alleinsynchronschwimmer. Irgendwann machte es <Plopp>.
»Zieh«, riefen der Mann und Rolf gleichzeitig und der Zug riss sie nach oben, mehrere Meter über den Brunnen hinweg.
Dann fielen sie. Wasser schoss aus dem Brunnen heraus und warf sie in verschiedene Richtungen.
Die Leute des Dorfs klatschten, auch der Bürgermeister. »Famos, famos!«, brüllte er.
»Wir sollten ein Fest machen«, knirschte Rolf, dessen Rücken an einer Hauswand gelandet war.
»Aber ja doch, aber erst, wenn Ssulhcsver wieder im Brunnen ist. Er ist ein ziemlicher Spielverderber.«

Die Gruppe sagte nichts. Sie sagte auch nichts, als Rolf und die anderen das Dorf verließen. Es gab keine Feier. Dafür konnte Rolf sehen, wie die Leute versuchten, den Mann wieder in den Brunnen zu stecken, um zu verhindern, dass das Dorf überflutete. Immerhin hatte er was gelernt. Keine gute Tat bleibt ungesühnt.

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