Das Tor des Sawta Klaws – 19

Das Tor des Sawta Klaws – 19

Als sie die Stadt am nächsten Morgen verließen, lag Schnee auf den Dächern und Plätzen. Die Bahn fuhr problemlos, bis auf einige Ruckler, als wären auf den Leitungen Vögel festgefroren.
Sie erhielten Pferde, stabile Tiere, die wirkten, als wären sie aus Holz oder Plastik, ähnlich der Figur, die nun Klaus bei sich trug. Er starrte noch immer zu Boden – ob es Schuld oder Scham war, konnte niemand erkennen. Außerdem wirkte alles, als würde sich die Welt beschleunigen.
»Wir müssen den Wald der tausend Geheuer und zweitausend Gegenstücke durchwandern, dann die Ebene des Flachlandes, dann ein paar Berge besteigen, die höher sind als die Atemluft es zulässt, aber das ist das normale Zeug, das haben wir schon immer gemacht.«
»Aber ihr habt euch doch erst getroffen, also ein paar Tage, bevor ihr mich erweckt habt«, meinte Rolf, der merkte, dass es auf einem Pferd nicht besser war als in einer U-Bahn.
»Die Formeln und Gebeten, die Opfer, die Ritualwerkzeuge, all das war ja nicht an einem Ort. Wir haben einiges auf uns genommen, um das zusammenzubekommen. Es ist schade, dass Klaus gehen wird, wenn die Sache vorbei ist. Er wäre ein guter Schüler, wenn die Lehrer passen würden. Also ich meine, wenn er eine Chance hätte, jemand anderes zu werden.«
Rolf schwieg. Kinsur hatte natürlich recht. Natur versus Erziehung war immer ein Thema gewesen, aber auch, wenn er glaubte, dass Erziehung deutlich wichtiger war, schien die Natur gewisse Reaktionen zu bevorzugen, gewisse Programmabläufe, die zu einem passenden Ziel führten, auch wenn niemand das Ziel kannte. Jeder ist das Opfer genetischer Vorlagen, die am Ende zwar in eine Form gepresst werden, doch diese Form kann wachsen, wenn auch selten komplett neu werden. Wenn man ein Gen für nervöse Reaktionen hat, oder sagen wir so, eine Vorlage, schneller Schmerz zu empfinden, musste man später entscheiden, wie man diese Vorlage, diese Freigabe oder Zwang, bekämpfte oder schwächte.
Klaus war schwierig. Niemand kannte seine Gene. Er war eine Figur, freigelassen für eine gewisse Zeit. Oder lag in den Mechaniken des Toten eine eigene Welt? Träumten Steine? Tanzten Bäume? Wussten Sterne, dass sie etwas bedeuteten, zumindest für einige Leute.

Der Wald, den sie durchquerten, hing am Boden, als wäre er dort festgekettet worden. Eis knisterte bei jedem Hufschlag. Die Büsche warfen ihr weißes Fell ab und zeigten ihr grünes Fleisch, durchstoßen von roten Perlen, Früchten, die leise zu kichern schienen.
Und nicht nur das.
Der Wald schien zu leben, schien auf sie gewartet zu haben.
Und da waren sie schon. Die grünen Leute. Umhänge voller Leere und oder Menschen. Sie waren rasch unterwegs, fast unheimlich beweglich, wenngleich einige von ihnen hin und wieder hängenblieben und auf die nicht vorhandene Fresse fielen. Doch sie rappelten sich auf und rannten weiter. Waffen glitzerten in ihren Händen, rotweißgrün gefärbte Zuckerstangen, angespitzt, brennend vor Zorn.
Die anderen der Gruppe waren schnell an ihren Waffen. Leblang und Kinsur schlugen von ihren Pferden hinunter auf den Boden, doch die vielen Elfen umrundeten sie und versuchten, sie herunterzuzerren. Halbe Umhänge mit abgetrennten Armen zuckten unter den Fußhieben der anderen, doch auch hier schienen die Elfen einfach zu viele zu sein. Wo Klaus die Klingen herbekam, die aus seinen Ärmeln, aus seinem Gürtel, aus seinem Stiefel in seine Hände schossen und die Elfen zurücktrieb, die Umhänge an Bäume nagelte, wusste Rolf nicht. Auch Anneas verwirrende Magie wirkte unwirklich. Mal war sie hier, mal dort, ein Teil von ihr blieb sitzen und schlug zu, der andere Teil zerrte Elfen in irgendwelche Löcher und spuckte sie wieder aus, doch waren die Umhänge nun anders, als wären sie dutzendfach im Dreck liegend von Autos überfahren worden.
Und Maries Axt blitzte auf, zerteilte ihre Gegner oder Bäume und Äste, welche auf die Angreifer herunterkrachten und sie am Boden fixierten.
Und Rolf selbst? Er schien nichts zu tun, nichts tun zu können. All das wirkte fremd, als wäre alles hinter einer dünnen Wand gefangen, hinter einem Bildschirm, hinter Plastik, unmöglich zu erreichen.
Und diese Wand, dieses Glas, diese Plastik, bewegte sich auf seinen Willen hin, wie Wasser, das er kontrollieren konnte. Er blickte zur Seite, als ihn ein Elf packen wollte, doch dieser wurde selbst gepackt und zusammengepresst von einer Faust aus Glas, aus Plastik, aus Energie, anders ließ es isch nicht beschreiben. Drei weitere Elfen wurden von der Wand gepackt, von einem Band aus fast unsichtbarem Licht, wurden zusammengezogen und in die Ferne geschleudert.
Im Licht sah Rolf wieder die Finsternis seiner eigenen Welt, unterbrochen von Weihnachtslichtern und hupenden Autos, unterbrochen vom Hass und Streit der Einkaufenden, deren Angst und Wut, nicht perfekt vorbereitet zu sein für das Fest, das nie ankommen würde. Sie alle lebten in einer Realität, die endlos war und deren Ziel nie erreicht wurde, eine Hölle.
Und diese Hölle nutzte Rolf nun, um sie auf die Elfen zu schleudern, einmal oder dutzendfach. Zwei Elfen erwischte Rolf, als sie Leblang zu Boden zerrten. Er ließ die Wand aufschlagen und trieb die Splitter in die untoten Körper der Zauberwesen.
Andere zogen sich zurück. Fast. Denn eine Gestalt stand dort, am Wegesrand, hinter einem Baum. Sein Gesicht war nicht sichtbar, aber Rolf konnte an den Händen jemanden erkennen, den er kannte. Es war der Knecht Ruprekt, der aus der Hütte. Ob er derselbe war wie in der Stadt, das konnte niemand sagen. Es schien fast so, als ob es mehrere von ihnen gab und jeder wusste alles, was der andere wusste.
Ein Gedanke kam Rolf, aber ob es ein guter war, das wusste er nicht, er musste es einfach erhoffen.
Das Band der Wand schoss in die Welt hinaus, aber nicht in die Richtung des Ruprekts, sondern an ihm vorbei, einige Meter, sodass der Mann oder die Kreatur nicht reagierten, nicht flüchtete. Dann blieb das Band stehen, auf Rolfs Befehl hin und kehre zu ihm zurück. Ruprekt reagierte, aber zu langsam. Das Band packte ihn, hüllte seinen Oberkörper in Sekundenbruchteilen ein und raste mit ihm in die Richtung der Gruppe.
Krachend fiel der Mann zu Boden, das Gesicht im schlammigen Schnee des Pfades.
»Helft ihm hoch«, meinte Rolf. »Er kann uns helfen.«
»Und wir helfen ihm, oder was?«, fragte Kinsur, aber niemand hörte auf ihn.

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