Das Tor des Sawta Klaws – 1

Das Tor des Sawta Klaws – 1

Ja, sie hatte recht. Und sie alle hatten recht.
Seine Mutter hatte recht. Es war einfach, sich in den Abgründen der Internetwelten zu verlieren. Es war einfach, einen Knopf zu drücken und damit ein Monster umzuhauen. Es war auch absolut und total einfach, diese Monster zu looten, ihre Reste zu durchsuchen – und sogar etwas zu finden, was nicht hingehörte, wie Gold oder eine Waffe.
All dies war einfach.
Alles andere war schwer.
Die Schule war schwer. Sie war schwer gewesen.
Jetzt nicht mehr. Jetzt war das Leben schwer.
Rolf starrte auf den Bildschirm vor ihm. Er konnte im Licht der Stubenlampe sein eigenes Muster erkennen, den Schattenabdruck seiner Persönlichkeit, die sich hinter dem Glas eingebrannt haben musste. Er sah die Bewegungen dieser Kreatur, dieser ungestümen Kreatur, die nur darauf wartete, geweckt zu werden.
Doch niemand würde sie wecken.
Jemand hatte sie geweckt.

Er wandte seinen Blick ab und stand auf. Der Bürostuhl knirschte bitterlich. Rolf lächelte bitte und in sich hinein. Da war niemand anderes, dem er diese Geschichte hätte erzählen können. Er war allein, allein mit dem Bürodrehstuhl und dem verlöschenden Bild des Videospiels, allein mit der Stubenlampe und den Regalen voller ungeleser Bücher und halb-gesehener Filme. Oder hatte er sie doch gelesen und gesehen? Es war ihm gleich. Heute war Heiligabend und er saß in seiner Wohnung, die er seit 2 Jahren besetzt hielt.
Worauf wartete er?
Er wusste er nicht. Er starrte auf sein Abbild im Stubenfenster, hinter dessen grauen Wänden die Wirklichkeit existierte, delikat und unwahrscheinlich feindlich, unmöglich kompliziert. Er wusste, dass da draußen andere Menschen existierten, aber sie waren nicht wie er. Er war drin. Er war sicher. Sie waren nicht sicher. Und das machte alles noch schlimmer.

Es schneite. Es war ungewöhnlich, in einer Zeit der Klimaerwärmung Schnee zu erwarten, aber er konnte nur wiederholen, was die Leute im Internet sagten: Es war eine langsame schrittweise Änderung, die an einzelnen Orten massive und exzessive Phänomene auslöste. Auch deshalb war die Welt gefährlich. Rolf fühlte, dass jede Form seiner Anpassung an die Gegebenheiten der Gesellschaft etwas auslösen konnten, das den Lauf der Geschichte ändern würden. Der Schmetterlingseffekt war immer wirklich und solang man nicht wusste, wie man ihn aufhalten konnte, so lang würde Rolf hierbleiben. In seiner Wohnung. Allein. Allein mit seinem Computer und den Spielen und den Büchern und Medien.

Manchmal dachte er, gerade jetzt im Winter, dass er sein Leben vergeudete, dass die Welt mehr bieten musste als die Summe seiner Ängste zu sein. Er ahnte, dass es gute Menschen gab, aber sie waren weit verstreut und am Ende würden sie sich ihren niederen Bedürfnissen hingeben, ihn töten oder verletzen, nur um etwas zu bekommen, das ihm gehörte. Vielleicht Wissen, vielleicht Gold. Gold. Er grinste. Er hatte kein Gold. Draußen schneite es gefrorenes Wasser, das deutlich realer war als das Gold in seinem Videospiel, deutlich wirklicher als sein fetter grauer Schatten im Echo seines Fensters.

Er drehte sich um und wanderte in die Küche. Die Lieferung war vor zwei Tagen eingetroffen. Bis auf die gefrorenen Sachen wie Pizza und Eis und Gemüse standen die zwei großen Pakete noch immer vor dem Fenster und warteten darauf, endlich geleert zu werden. Doch Rolf musste abwarten. Jetzt, zur Weihnachtszeit waren die Gassen und Gänge, die Straßen und Plätze, selbst der Weg zu den Mülltonnen gefüllt mit Menschen, die sich im tabakfarbenen Licht der alten Straßenlaternen bewegten, ihre Hände hoben, als wären die Schneeflocken etwas magisches. Es gab keine Magie, keine Hoffnung. Die Besucher, welche Weihnachtslieder sangen, würden in Januar ihre kalten Gesichter wieder in die schwarzen Jacken pressen und den Blick zu Boden richten. Sie würden nicht reden, würden nur Hintergrund-Sprites sein, namenlos und wortlos, so dass Rolf dann seinen Müll loswerden könnte, ohne Teil ihrer Wahrnehmung zu sein.

Natürlich war es nicht einfach, selbst dann nicht. Er wusste, dass er hart geprüft wurde, wenn er von Menschen gesehen wurde. Er wusste es, weil er sich selbst hart prüfte, jeden Tag. Jeden Tag betrachtete er sein Fleisch im Spiegel, sein Gewicht auf der Waage. Er betrachtete sein Gesicht, seine dumpfen Augen, starrte in sie hinein, als wollte er etwas hinter ihnen erkennen. Doch sie antworteten ihm nicht.

Als er in der Stube zurück war, ließ er sich auf den Bürostuhl fallen. In jener Bewegung, die er so viel tausend Male wiederholt hatte, bemerkte er, ohne dass er es wollte, dass sich sein Spiegelbild im schwarzen Schein des Fernsehers nicht rührte. Es war nicht einmal da. Da war nichts, nur Schwärze, als ob das Licht selbst sich nicht traute, ein Echo zu erschaffen. Seine Bewegung stoppte, er berührte nicht einmal den Sitz des Stuhls. Seine Hände zitterten auf einmal unkontrolliert, doch nicht in einem Tremor oder in einer Panikattacke, die er seit Wochen nicht erlebt hatte. Nein, das war etwas anderes. Würde er sterben? War es wichtig? Seine Gelenke knirschten unkontrolliert und Rolf erinnerte sich an die Sprüche seiner Großeltern, dass knackende Gelenke später einmal Gicht und Rheuma auslösen würden, dass sie unbeweglich werden, dass sie am Ende zu unlösbaren Krallen mutieren würden. Sein Körper fühlte sich an, als würde er von einer Macht geprüft, die hinter der Schwärze des Fernsehers hing, die in einer unendlichen Nähe zu ihm erwacht war.

Die Schwärze blubberte leise und ergoss sich aus dem Fernseher in den Raum hinein. Seine ölig glänzenden Tentakel krochen in den Boden, als würden sie schnuppern, als würden sie etwas suchen. Rolf wurde klar, dass er zu viele Hentais gesehen hatte – immerhin würde ihn nun jemand ihm nahekommen. Er versuchte, den Gedanken witzig zu finden, doch aus seinem Mund drang nur dumpfe Panik, die sich zwischen seinen zusammengepressten Zähnen in die Freiheit hinauspresste.

Die Schwärze rollte über ihn hinweg. Sie war neutral. Absolut neutral. Sie hatte weder Wärme noch Kälte, weder Ton noch Stille, weder Farbe noch Existenz. Sie rollte über ihn hinweg, hüllte ihn ein, ähnlich einem Taxifahrer, der gerade seine letzte Schicht hat, so Rolf sich erinnern konnte.
Dann stoppte sie. Er merkte, dass die Bewegung, die er vor Augenblicken gestartet hatte, noch immer in existierte, dass sein Körper noch immer nach einem Bürostuhl verlangte, in den er sich fallenlassen konnte.
Doch da war kein Bürostuhl. Da war auch keine Stube. Also gut, da war ein Zimmer, ein Raum, ein einfacher Raum, viel zu einfach für seine Wohnung. Die Wände waren weder mit Tapeten bedeckt noch die Wände mit Regalen. Computer und Fernseher fehlten auch. Poster hingen an den Wänden, aber sie glimmten leise vor sich hin. Und der größte Unterschied war, so Rolf es sehen konnte, bevor die Panik ihn endlich einholte: Er war nicht allein. Die Monster, die er erblickte, trugen menschliche Körper. Und Waffen. Und jemand sagte so etwas wie »Ich hoffe, wir haben den richtigen Magier erwischt, um Sawta Klaws zu töten«, bevor Rolfs Verstand endlich aufgab.

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