Der See in der Mitte einer Stadt namens Berlin

Der See in der Mitte einer Stadt namens Berlin

Welche Kategorie das Fischen in meinem Leben hat? Bisher keine, aber das würde sich schnell ändern müssen, denn meine Frau bestand darauf, dass ich mir ein Hobby suche.

„Immer am PC, immer am Tippen und was kommt am Ende raus? Nüscht.“

„Das ist mein Hobby“, war meine Antwort, offenkundig hatte sie nicht gehört, wie ich stundenlang vor mich hingeflucht hatte, weil ein einzelner Satz aus dem Wust an Sätzen herausstand, der mir mehr bedeutete als der ganze Rest der Chose.

„Ein Hobby soll dich entspannen, nicht töten.“

„Außer Serienmörder zu sein. Aber gut“, teilte ich ihr wortlos mit und sie nickte mir zu, als habe sie mich verstanden, als hätten meine Augen ihr gezeigt, dass sie recht hatte.

Ein Hobby also, Fischen also.

Fischen mit was?

Stundenlang durchsuchte ich das Internet nach Angelruten, nach Bezeichnungen für Fische, nach Angelplätzen, nach gesetzlichen Vorgaben – nicht jeder darf alles angeln.

Das Glück ist selten auf meiner Seite und so musste ich tatsächlich feststellen, dass es in der Nähe sogar einen See gab, in dem es von Fischen wimmeln sollte, als ob sie einem direkt in den Korb sprängen.

„Aber du musst sie ausweiden und zubereiten“, versuchte ich es ein letztes Mal.

Doch meine Frau war nicht mehr da. Sie war einkaufen gegangen. Shopping als Hobby.

Ich hatte eine billige Angelrute erworben, um die 30 EUR und ich war bereit, dem See meine Aufwartung zu machen. Der See hing in der Landschaft wie ein Eimer Spucke auf der Straße. Bäume warteten am Rand auf Menschen, die sich in ihren Schatten ausruhen wollten. Ein paar Weiden schwangen herum, tanzten im Wind, der in den Wellen des Sees Muster bildete. Ich fühlte einen gewissen Enthusiasmus aufkommen, ein unmerkliches Gefühl der Freiheit. Die Luft wirkte frischer als sonst und ich mich deutlich jünger als ich war.

Ich wanderte am Rand des Sees entlang, suchte nach einer bequemen Stelle, an der ich meinen Kram abladen konnte – im Gegensatz zum Schreiben braucht man fürs Fischen offenkundig nicht nur Rute und Köder, widerlich wimmelndes Madengekröse, sondern auch Klappstuhl und eine Tiefkühltasche zum Transport von Bier (zum See) und Fisch (zurück nach Hause). Ich wand mich durch das Schilfrohr, das wirkte, als ob an seinem Ende ein Dutzend Ninjas hing, die darauf warteten, dass ihre Verfolger von einer Verfolgung absehen würden.

„Gehen Sie am besten weiter“, meinte jemand und als ich umdrehte, stand da ein alter Mann, genauso wie ich, mit Angelrute und Klappstuhl und Tiefkühltasche. „Das Schilf ist tückisch.“

„Tückisch? Ich meine, dort werden sicher keine Fallen stehen für uns Menschen.“

Er nickte. „Doch. Gehen Sie weiter. Dort hinten, nur 5 Minuten weiter ist ein guter Platz mit guter Sonne und genug Fisch.“

„Ihr ‚Doch‘ macht mich neugierig, ich komme mit.“

Und dann saßen wir tatsächlich, 10 Minuten später, an einem Platz unter einem großen Lindenbaum und die Sonne spiegelte sich im See und die Wellen wirkten wie schwimmende Diamanten und der alte Mann hatte seinen Klappstuhl aufgestellt und die Angel ausgeworfen.

„Ihr ‚Doch‘ ist noch immer wichtig, Herr …?“

„Nennen Sie mich einfach Jan. Oder Du. Nenn mich Jan.“

„Ich bin Herbert“, murmelte ich, unfähig meinen eigenen Namen zu benutzen.

„Ein seltener Name für Ihr Alter.“

„Meine Eltern mochten das Auto. Und sie waren Fans von Frank Herbert.“

„Der mit den Würmern auf dem Sandplaneten, ich kenne sie aus meiner Kindheit …“

Unwillens mir einzugestehen, dass die Bücher schon sehr alt waren, zuckte ich leise vor mich hin.

„Also …“

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Der See und die Fische, die Sie hier sehen, oder erleben dürfen, ist gar nicht so alt, wie man denkt. Hier war bis vor 30 Jahren eine Grube, eine Baugrube. Sehr groß und sehr weit. Irgendwelche Bauherren hatten sich vor der Wende überlegt, hier ein riesiges Einkaufszentrum zu bauen, mit Parkplatz und dem ganzen Pipapo. Die Bäume und Sträucher, die Menschen, die hier existierten, waren diesen Herren völlig egal. Es ging und geht solchen Leuten nur um Geld, Maximierung der Einkünfte. Nun, es gab Demonstrationen, aber dies wurde alles im Schatten der fallenden Berliner Mauer verhüllt, alle eskalierten, alles war schön und gut.

Schön und gut dachte sich auch die Gruppe der Spekulanten. Sie wussten, wenn hier auf einmal ein paar Millionen Extrakunden entstanden, würde sich ein solches Projekt doppelt lohnen. Dafür könne man schonmal ein paar alte Bäume und Sträucher abholzen, würde ja keiner merken. Und so machten sie sich auf in einer Nacht im frühen Jahr 1990. Sollte schnell gehen, aber naja, die Bäume weigerten sich einfach, zu sterben. Und die, die umfielen, begruben ihre Mörder. Und die Büsche zuckten und lachten leise. Man konnte hören, wie die Wurzeln ihre Angreifer packten, sie davonzerrten. Die kalten Gesichter der Spekulanten hingen wie bleiche Sterne in der Finsternis. Sie fühlten, wie ihnen alles entglitt. Maschinen wurden gepackt und davongeschleudert. Lichter wurden ausgelöscht, so dass am Ende nur noch die Nacht lebte. Man konnte den Wald atmen hören, ein zorniges Atmen war es. Ein langsames Atmen.

Einer der Spekulanten schien irre geworden zu sein. Er rannte an seinen beiden Kumpanen vorbei, direkt in die Wildnis hinein. Benzinkanister wurden geöffnet. Ausgeschüttet. Ein Feuerzeug klickte, lauter als die Autos, die in der Ferne durch die Nacht glitten. Augenblicke später ging ein Busch in Flammen auf, ein Baum, noch ein Baum, noch ein Busch. Feuer knisterte, wurde von Schreien unterbrochen. Ein tanzender schwarzer Schatten vor einem chaotischen Feuer.

Dann begann es zu regnen. In dieser Nacht. In dieser Kälte. Es regnete. Es schneite nicht. Regen.

Und der Regen löschte die Flammen. Und aus der Tiefe schoss Wasser heran und füllte die Grube. Und als dann Morgen wurde, war aus dem schönen Projekt ein See geworden, der See, den Sie gerade sehen.

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„Eine hübsche Geschichte“

„Ja“, antwortete der Mann und stand auf. „Wenn Sie etwas fangen sollten, werfen sie es wieder in den See.“

„Aber warum?“

„Was dem See gehört, gehört dem See.“

„Sie haben mir noch immer nicht das von den Schilfrohren erzählt.“

„Das stimmt“, meinte der Mann und schaute mich an. Sein Gesicht schien zu flimmern, als ob ich träumte – oder er träumte. Dann war er verschwunden und seine letzten Worte höre ich noch immer, auch Stunden später, daheim, in Sicherheit.

„Dort liege ich, ich meine, mein verbrannter Körper liegt dort. Wie ich schon sagte, was dem See gehört, gehört dem See.“

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