Hayes – Giftiger Wein – Kapitel 9

Hayes – Giftiger Wein – Kapitel 9

Ja, natürlich. Alles war mit einem Mal so klar. Und dennoch blieb der Großteil des Wissens hinter den Türen der Wahrnehmung zurück, hinter den Pforten des Hier und Jetzt. Wenn es so etwas wie instinktive Rationalität gab, dann war es das.

»Wenn wir das überleben, müssen wir ernsthaft miteinander reden.«

Er starrte sie an, als habe sie ihm angeboten, ein Dutzend Kinder zu zeugen oder einen Drachen zu überzeugen, sein Gold freizulassen. Dennoch nickte er irgendwann.

»Der Ozean der Magie ist eine gefährliche Geliebte, Hayes. Sie als Frau müssten das wissen.«

Hayes wollte lachen, wollte der Empörung ob dieser Aussage einfach nachgeben, aber sie tat es nicht. »Wenn Sie meinen, dass ich gefährlich bin, dann haben sie Recht. Sagen Sie das aber niemanden.«

Jetzt lachte er, verstummte schnell. »Sie wissen, was Sie zu tun haben. Hören Sie auf, das Zeichen entziffern zu wollen und geben Sie ihm einfach, was es will.«

Einige Augenblicke später fiel die Tür aus den Angeln, zerbarst beim Aufprall, als wäre sie Jahrtausende gealtert, als habe die Zeit die Kraft aus dem Holz gesaugt. Das Metall glomm schwarz und roch nach einer Zukunft, die es nie geben würde.

Hayes rieb sich die Hand. »Es kribbelt«, meinte sie. »Aber ich fühle mich … schwächer.«

»Magie. Nutzen Sie sie nicht dauerhaft, sonst verzehrt das Feuer ihren Leib.«

Hayes nickte. »Wir müssen ernsthaft reden.«

»Das haben Sie schon gesagt.«

Den Dolch in der Hand schlich Hayes davon. Johann folgte ihr mit einigen Schritten Abstand, schaute sich um, als erwartete er einen Angriff aus der Finsternis hinter ihnen. Doch niemand folgte ihnen – und auch der Gang vor ihnen war leer bis auf die flüsterten Fackeln. Ja, Hayes glaubte sogar, dass sie einzelne Worte verstehen konnte. Vermutlich waren das die Auswirkungen der Magie, die jeden Ort in ein Tor in seine Welt verwandeln konnte. Doch sie durfte sich nicht ablenken lassen. Sie packte den Griff des Dolches noch fester, so dass die Spitzen der Waffe fast vibrierten.

Eine Tür baute sich vor ihnen auf, ließ sich aber leicht öffnen. Das leichte Quietschen verstummte schnell. In der Ferne wurde eine Glocke geschlagen. Es musste um die Mittagszeit sein. Selbst von unheiligen Kräften geführte Puppen brauchten Nahrung. Keiner der Männer, die Hayes gesehen hatte, hatte ausgesehen, als wäre er tot. Nur ohne Gefühl, ohne Mimik – Drohnen einer Bienenkönigin.

»Da«, deutete Johann mit der Hand in die Finsternis. Ja, Hayes konnte es sehen, konnte die Gestalt sehen, die noch dunkler schien als die Dunkelheit vor ihr, ein plastischer Körper vor einem unsichtbaren Grund, hinter dem die Nacht lauerte. Die Gestalt bewegte sich nicht, auch nicht, als die beiden näher heran traten. Vorsichtig tippte Hayes ihr mit der Klinge auf die Schulter. Die Gestalt rührte sich noch immer nicht. Hayes umkreiste sie, stoppte.

»Das … ist der Erzpriester.«

Johann trat näher heran, ging in die Knie, betrachtete das unwirkliche Gesicht, das unter seiner Kapuze noch fremder wirkte als alles andere während der letzten Tage. Er griff nach dem Gesicht, berührte es, zuckte zurück. Er griff erneut zu, packte die Nase, rüttelte daran.

Das Gesicht fiel zu Boden. Eine Mischung aus Staub und totem Fleisch kroch aus den Öffnungen, die den hautlosen Schädel bedeckten. Tote Augen hingen eingefallen in ihren Löchern. Der Kopf kippte leicht nach vorn. Die Augäpfel lösten sich, rollten in die Freiheit hinaus, blieben aber an den Nerven hängen, die nach wenigen Sekunden rissen. Johann taumelte zurück, würgte. Auch Hayes musste sich beherrschen, nicht ihr Gesicht zu bedecken, um den Eindruck des Grauens aus ihrem Verstand zu verbannen. Ihr Herz raste und ihr Magen wollte fliehen, aber sie musste stärker sein als das Grauen, das ihr Rückgrat beherrschte, Muskeln und Knochen in Stein verwandelte, in eiskalten Stein, der sich nimmermehr bewegen wollte.

 

Eine gefühlte Ewigkeit später hatte sie die Kontrolle über sich wiedererlangt, blickte sich um. Im Schatten, an der Wand der Kammer, lagerten Weinfässer, aufeinandergestapelt wie die Zellen eines Bienenstocks. Zwei Fässer standen noch davor, noch nicht bereit, gelagert zu werden. Die Deckel hingen noch nicht völlig fest und die Dauben waren hell, neu, frisch.

Wenn etwas die Kammer noch bizarrer machen konnte, dann war dies der Geruch, der wie ein Nebel über die Besucher glitt, der erst simpel, dann komplex, geworden war, ein Wirrwarr aus Süße und Schmerz, aus Tod und etwas anderem.

Hayes ging in die Knie. Roch. Stand auf.

»Was?«

»Es riecht komisch hier«, meinte sie.

»Hier ist ein Toter«, antwortete Johann.

»Das ist er nicht. Ja, er riecht tot, aber er muss schon länger tot sein. Dieser Ort hier ist so trocken, dass er verhindert, dass er zerfällt, wie jede Leiche es tun sollte – oder es ist Magie.«

»Nein, ich rieche keine Magie. Aber ich rieche etwas wirklich widerliches.«

»Es kommt nicht von ihm. Es kommt von …« Hayes ging zu den beiden Fässern, packte einen Deckel, zerrte ihn auf. Der Gestank überwältigte sie, machte auch vor Johann nicht halt. Er wich zurück, taumelte zur Tür, blieb stehen und ging in die Knie. »Bei Aracus, bei … Fuzan. Was ist das? Was bei allen Göttern ist das?«

Die blitzende Klinge fuhr in das Gebräu, rührte darin. Es fühlte sich an wie Suppe, Melasse, fetter Honig, dünner Brei. Als die Klinge wieder in die Freiheit gezerrt wurde, blieb die Masse daran kleben. Als Hayes sie weiter herauszog, folgte eine Hand.

Eine Hand, eine einfache Hand mit 5 Fingern; eine Hand, die am Handgelenk endete, umhüllt vom Gestank und Abbild der eigenen Verwesung. Hayes schüttelte sie ab. Sie fiel zu Boden, klatschte beim Aufprall, verlor die Form, verottete innerhalb von Augenblicken.

»Vermutlich ist das der Grund, wieso der Wein so schlecht schmeckt.«

»Ach wirklich?« Johanns Stimme triefte vor Sarkasmus.

»Aber wer war das?«, fragte Hayes halblaut, sprach mit sich selbst, versuchte, ihre Gedanken in Worte zu pressen.

»Die Frage ist eher, wieso?«

»Wer und wieso wird uns sicher helfen, wenn wir das Problem gelöst haben. Die Frage ist außerdem, was der Erzpriester hier macht, der uns letzte Nacht eingesperrt hat.«

»Ein wandelnder Toter ….«

»Die gibt es nicht.«

»Und es gibt auch keine Magie, Hayes. Wir sollten fliehen, die Obrigkeiten informieren und dann mit einer Armee zurückkommen.«

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