Hayes – Giftiger Wein – Kapitel 8
Die Zelle war winzig genug, jeden Luftzug in seine Form zu pressen. Hinter dem Fenster, aus dem Hayes die ganze Zeit starrte, flimmerte der Weinberg in all seiner violetten Pracht. Die fetten Trauben glitzerten vor Süße. Der Boden saugte jeden Sonnenstrahl in sich auf. Leider geschah dasselbe mit der Mauer. Hier unten, 4 Ellen unterhalb der Erde, wirkte alles wie der Rest eines alten Traums. Hayes ließ die Gitterstäbe los und sprang auf den Boden zurück.
»Wars das jetzt?«, fragte Johann. Er hielt den Kopf zwischen seinen Händen und blickte zu Boden. Sein Gesicht trug die Spuren des Kampfes, aber mehr noch, die der absoluten Selbstaufgabe. »Bei Aracus und seinen Freunden … wir werden wie sie sein. Geistlos, würdelos. Besser tot als das. Doch ich glaube, wenn wir in diesem verfluchten Keller sterben, dann werden unsere Seelen nicht zum Licht hinaufgezogen, sondern von diesem Feuer gefressen, verdaut. Ausgeschissen!«
»Das wird nicht passieren, Johann. Glaub mir.«
Er lachte. Seine Stimme riss Ketten in der Wand – nur leider öffnete sie nicht die Tür.
»Ich hasse es, auf den Tod zu warten«, meinte Hayes.
»Dann bringen Sie mich und sich gleich um«, antwortete Johann.
»Ich werde Sie zuletzt umbringen. Dann …«
Jemand wanderte an der Tür vorbei. Blieb stehen. Schwieg. Wanderte weiter.
»Das ist mein Bruder«, sagte Johann. »Ich erkenne dieses schuldbewusste Schweigen.«
»Dann wäre er der einzige Mensch hier, der noch einen echten Geist hat.«
»Wer sagt, dass die anderen Arbeiter dumm sind? Vielleicht merken sie erst am Abend das Zerren der Magie an ihren Geistern.«
»Wir reden zuviel. Wir tun zuwenig.«
»Wir müssen die Zeit ertragen, bis man uns grillt.«
Johanna trat gegen die Tür. Das dumpfe Echo aus Holz und Fuß wurde schnell vom Hintergrund verschluckt. Nichts geschah. Gar nichts. Johanna wanderte wieder zum Fenster, zog sich an den Gitterstäben hoch und schaute hinaus. Die Sklaven der »Göttin« bewegten ihre Schatten durch die Weinstöcke.
Etwas bewegte sich hinter ihr, doch noch bevor sie reagieren konnte – Johann wollte sowieso nicht – war die Tür schon wieder zugefallen. Der lange Dolch lag auf dem Boden, glitzerte grau. Schnelle Schritte entfernten sich.
»Aha«, war Hayes Reaktion. Das konnte alles bedeuten, aber in diesem Fall war es mehr Verwirrung als Erleichterung, mehr Schicksal als Freiheit. Sprich: War das eine Falle oder jemand, der noch bei echtem Verstand war?
»Und nun?«, fragte Johann. »Erwartet man von uns, einen Weg durch die Gitterstäbe zu schneiden? Oder das Holz der Tür zu zerhacken? Oder uns selbst zu zerhacken und uns teilweise nach draußen zu werfen? Das funktionierte beim Fuzan und selbst das halte ich für eine Geschichte.«
»Das war vor 200 Jahren. Natürlich ist es Geschichte.«
»Legenden, Sagen, Märchen – was auch immer. Der Dolch ist eine Waffe. Wer braucht hier eine Waffe.«
»Ich, wenn Sie nicht ruhig sind. Ich muss nachdenken.«
Nachdenken, schön und gut. Die Waffe lag gut in der Hand, wie immer. Die Zeichen flimmerten. Hayes ließ die Klinge auf ihrer Hand rotieren, doch sie kippte zur Seite und fiel zu Boden. Das war eigenartig. Sie stand auf und ließ die Sonne über die Waffe wandern. Etwas war hier falsch. Der Griff war von gleicher Größe wie vorher, der Handschutz war … anders. Sie schaute genauer hin. Ja. Auf einer der Seiten war die Lederhülle etwas dicker. Sie zerrte daran, rollte den Riemen auf. Ja, eindeutig. Ein winziges Stück Pergament war festgezurrt worden. Sie zog es von der Waffe und öffnete es. Symbole krochen durch die Finsternis in ihrem Kopf. Sie kannte die Symbole, die Zeichen, aber sie waren nicht eindeutig verständlich. Es waren Anleitungen für Bewegungen, aber nur für ihre Finger. Bizarr. Das ganze wirkte … falsch.
»Ich schmecke Magie«, meinte Johann und öffnete die Augen.
»Kann man Magie schmecken?«, fragte Hayes, blickte ihn aber nicht an.
»Das ist eine Kraft von mir. Deshalb bin ich aus Uruk fortgeschickt worden. Die ganze Stadt brummt vor Magie und für mich schmeckt das alles wie Abfall, brennender Abfall. Bienen mögen Magie auch nicht. Ich bin also dafür geeignet, mich um die Apfelhaine und die Bienenstöcke zu kümmern.«
»Und das erfahre ich jetzt.«
»Bisher habe ich auch keine Magie gerochen oder geschmeckt. Selbst in der Tiefe, dort, beim Feuer, das war anders als sonst. Vielleicht ist es keine Magie.«
»Es muss Magie sein …«, murmelte Hayes, doch sie war sich nicht mehr so sicher.
»Nicht alles, was Männer in den Abgrund wirft, ihr Leben vergiftet, muss Magie sein. Frauen, Wein … bei Aracus, der Wein!«
»Vielleicht ist es der Wein. Aber ich muss erst einmal herausfinden, was diese Symbole wirklich bedeuten.«
»Symbole?« Johann war bereits aufgesprungen, bevor er das Wort beendet hatte. Mit geschicktem Griff entriss er Hayes das Pergament und blickte es an, starrte durch es hindurch, als wäre es nicht real. »Ja, das ist ein Fingertanz. Es muss aus einer der alten Bücher stammen, die wir in Uruk unter Verschluss halten. Wie es hergekommen ist, kann ich nicht sagen. Vielleicht hat es der Erzpriester mitgebracht, um eine Waffe gegen die Feuer-Dame zu haben oder gegen was auch immer. Es ist schwer, einen solchen Tanz zu erlernen, weil er nicht davon abhängt, wie gut man ihn auswendig gelernt hat, sondern man muss ihn begriffen haben.«
»Aha« Diesmal trug das Wort den Ausdruck des eigenen falschen Nicht-Interesses in sich, das einem Schüler entfährt, wenn er weiß, es müsse etwas lernen, was er aber nie brauchen würde.
»Lassen Sie das, Hayes. Nur weil Sie keine Ahnung …«
»Ich habe Ahnung, Johann. Danke für die Unterrichtsstunde. Dann zaubern Sie mal.«
Er winkte ab. »Wie ich schon sagte, Magie und ich sind zwei Welten, die sich nie berühren können. Magie ist eine Frau. Ohne Richtung. Schaffend und zerstörend zur selben Zeit. Nun blicken Sie mich nicht so an, als hätten Sie noch nie davon gehört. Das Pergament ist für Sie. Nehmen Sie das Symbol in sich auf und dann schauen wir, was es bewirkt.«
Hayes ließ ihren Zorn verstreichen. Sie nickte und wandte sich ihrer Lektüre zu.
»Da ist nur das Symbol«, meinte sie nach einiger Zeit.
»Verlieren Sie den Focus, Hayes. Lassen Sie los. Schauen Sie nicht auf das Symbol, schauen Sie hinter das Symbol, stellen Sie sich vor, sie würden es zeichnen. Suchen Sie die Intentionen der Bewegungen – und dann gehen Sie rückwärts vom Symbol zum Wunsch.«