Hayes – Giftiger Wein – Kapitel 6

Hayes – Giftiger Wein – Kapitel 6

Der Boden roch nach alten Füßen und noch älterem Wein. Die Treppe erinnerte an einen Abgrund. Irgendwo in der Ferne krochen Flammen an den in den Felsen gemeiselten Wänden entlang und verwandelten die Dämmerung in einen Tanz toter Schatten. Hayes rutschte an dem kalten Stein entlang, Bruder Johann ein paar Schritte hier ihr. Er wischte sich noch immer den Dreck von seiner Tracht.

»Verrotte Weinbeeren«, murmelte er. »Ich werde die nächsten Tage nach verotteten Weinbeeren riechen.«

Hayes zischte, reagierte aber sonst nicht weiter.

Bruder Johann schien sich nicht für ihre Reaktion zu interessieren. Bröckchen süß-dumpf-stinkender Reste aus der riesigen Wanne klebten an ihn, aber auch an Hayes, die es nicht zu interessieren schien.

Die Stufen führten kreisförmig in die Tiefe. Die Fackeln waren alt genug, um mehrere Lagen Teer verbrannt zu haben, ohne sich wirklich verkleinert zu haben und steckten so tief in ihren Halterungen, dass man sie nur mit einer metallenen Stange hätte entfernen können.

»Eigenartig, dass der Gesang nicht lauter wird«, meinte Johann, »wir müssten doch immer näher kommen.«

Ja, Hayes wunderte das auch, aber in Anbetracht der Situation und der drückenden Luft, die den Gang ausfüllte, schien alles möglich zu sein, sogar die Existenz von …

»Stopp«, meinte sie und hielt ihre linke Hand hoch. Mit der rechten Hand packte sie den Dolch, den sie mitgenommen hatte – für ein Schwert wäre die Enge fatal gewesen. Dafür besaß die Klinge eine Länge von fast einer Elle, war leicht gebogen und ihre Spitze mehrere Zoll zweigeteilt, so dass sie ähnlich einer Gabe oder eines Zweizacks mögliche Angriffe abfangen konnte. Sie mochte diese Waffe. Sie hatte sie vor Jahren auf einem Marktplatz auf den Inseln gefunden, hatte die Form hinter dem salzummalten Rost erkannt und einen guten Preis ausgehandelt. Die winzigen Zeichen, die die Schneide bedeckten, leuchteten schwach, auch wenn die Waffe selbst keine Magie ausstrahlte, konnte sie jedoch, abhängig vom Winkel, Kräfte aufzeigen, die am Werke waren. Natürlich wusste das nur Hayes, die nun stehengeblieben war und durch eine offene Tür schaute, deren Holz vor Jahren schon durch Wasser und Stille verrottet und dann zerborsten war.

In der Ferne kroch Rauch über eine verworrenene Fläche, die vom dicken Flackern eines großen Feuers in der Tiefe in verschiedenen Rottönen leuchtete, Reflektionen eines unheimlichen Macht. Vorsichtig stemmte sie die Tür auf. Die rostigen Türangeln knirschten, aber nicht laut genug, um weiter gehört zu werden als zwei oder drei Ellen.

Die Melodien, die in die Ohren der beiden Besucher flossen, nahmen an Qualität zu, wurden real, kraftvoll. Eine düstere Eleganz, die vorher nicht zu hören gewesen war, nahm Raum ein, senkte sich auf den Verstand wie eine Decke aus samtigen verrotteten Moos, das über ein vergessenes Schlachtfeld kriecht, voller namenloser Erinnerungen und Schmerzen. Ja, die Töne packten das Herz der beiden, dennoch überwand sich Hayes und wanderte weiter. Ihre Füße kämpften gegen den Schlaf, der bereit war, sie in seine toten Arme zu nehmen. Rechts und links an den Wänden schwebten alte Regale vorbei, ein Schreibtisch auf der linken Seite zeugte von aufmerksamer Arbeit, doch als Hayes eines der Blätter nahm, fühlte es sich antik und halb verfault an.

»Hm.« Etwas knirschte neben ihr.

Sie drehte sich um. Johann kniete neben ihr, starrte an ihr vor in Richtung der betäubenden Flammen. Die Magie, die den Raum beherrschte, musste uralt sein, gut und böse zur selben Zeit, denn Magie selbst … nun ja, wie jedes Leben kämpft sie um ihre eigene Existenz. Doch es war nicht die Zeit zu philosophieren. Hayes packte das Blatt, kämpfte die Betäubung an, riss ein Stück heraus, zerknüllte es und steckte es in ihr Ohr, dann ihr anderes Ohr. Sofort veränderte sich die Welt. Die Flammen wirkten anders, nicht mehr so künstlich. Bruder Johanns Gesicht trug das Zeichen der Hypnose, die sie beide fast vollständig eingehüllt hätte.

»Au« formte sein Mund, nachdem sie auch ihm beide Ohren verstopft hatte. Er blickte sie an, sie zuckte mit den Schultern. Sie deutete an, dass er aufstehen sollte. Er folgte wie jeder gute Begleiter eines Abenteuers.

»Oh«, formte Hayes Mund, doch wortlos, wie es sein sollte. Sie blickte in den Abgrund. Zwanzig Ellen entfernt schwankten die Männer, die sie heute beim Abendessen ignoriert hatten, über den gemauerten Boden, der im Kreis um ein Feuer. Über dem Feuer hing etwas, doch Johanna konnte im Schein der unheilig wirkenden Flammen nichts wirklich erkennen. Es wirkte zerbrechlich und gleichzeitig stark, als könnte es eine Ewigkeit überdauern. Hayes musste sich eingestehen, dass der erste Eindruck der Männer falsch gewesen war, denn sie alle tanzten, im Gleichtakt, hoben Arme, senkten Köpfe, drehten sch im Kreis, verrenkten ihre Glieder in unnatürliche Positionen, als würden sie sich nicht konzentrieren können, als wären sie nur Puppen eines bizarren, dämonischen Puppenspielers, dessen Grinsen an den Wänden hing, denn dort, so konnte Hayes sehen, war tatsächlich ein Gesicht zu sehen. Jemand hatte es vor Ewigkeiten in Stein gemeißelt, hatte die Kraft der Schatten genutzt, um Konturen zu schaffen, die nur sichtbar waren, wenn das Feuer brannte und dessen Ausdruck sich jeden Augenblick änderte, ein Meer von mimischen Ausdrücken war, ähnlich einem irren Schauspieler, der nicht erkennen will, dass er vor Jahren vergessen wurde – oder sogar verstorben ist.

Eine weitere Gestalt trat in die Runde. Die Männer stoppten in ihrer Bewegung, liessen ihre Arme fallen, senkten ihren Blick und traten zurück, so dass die Gestalt, es war ein Mann, sich dem Feuer nähern konnte.

Jemand zerrte an ihrem Ohr. Hayes wirbelte herum, doch es war nur Johann.

»Der Erzpriester«, flüsterte er, »das ist der verschwundene Erzpriester. Schau ihn dir an, dieses verkommene Stück Fuzan-Sklave.«

Hayes deutete ihm an, dass er gefälligst schweigen sollte. Er verzog sein Gesicht, sagte aber nichts weiter.

»Herrin!«, brüllte der Erzpriester mit einer Stimme, die nicht zu ihm passte. Sie trug eine Kraft in sich, die Knochen zu knirschen brachten, Fleisch zum Kochen, Berge zum Zucken. »Herrin! Wir sind deine Sklaven und du bist die Herrin! Der Idiot des Lichtes, dar über uns schwebt, ist nichts im Vergleich zu deiner Macht. Wenn die Sonne vergeht, dann bist du noch immer da. Du bist ewig. Ewig!«

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