Hayes – Giftiger Wein – Kapitel 4

Hayes – Giftiger Wein – Kapitel 4

»Deshalb sind wir hier.« Bruder Johann lehnte sich zurück, rülpste, pulte einen Fetzen Hühnerfleisch aus einer breiten Zahnlücke, betrachtete es und warf es zurück in seinen Mund.

»Wegen des Weins.«

»Und wegen des Erzpriesters.«

Sein Bruder – er hatte sich nicht vorgestellt, aber das war klar gewesen – betrachtete Hayes und ihn mit zusammengekniffenen Augen. Seine Augenbrauen hatten die Dicke eines Fingers, waren fast schon weiß, dennoch schien er nur einen Hauch älter zu sein als Johann selbst. Vielleicht lag es am Wein.

»Lyark war hier, ja. Aber er ist schon vor zwei Wochen oder vier Wochen, ich weiß nicht mehr so genau, wieder zurück nach Uruk.«

»Davon wüsste ich. Laut meinen Unterlagen ist er über die Brücke zu euch gekommen, aber nicht wieder zurück.«

»Dann habt ihr es vergessen.«

»Auf keinen Fall. Wir sind beide sehr genau, lieber Bruder.«

»Du und der Zausel, wie heißt er? Liebstock? Liebstock ist älter als wir beide zusammen.« Bruder Johann lehnte sich nach vorn. »Du wirst jetzt sicher nicht behaupten, dass die Brücke Leute einfach durchlässt. Was ist deine Ausrede für das Verschwinden für Lyark?«

»Vielleicht ist er ins Dorf. Ich weiß nicht. Hat vielleicht sich ein Weibchen geholt. Lyark ist ein Weiberfreund.«

»Über eure Mauer hinweggehüpft? Der Mann ist fast 70 Jahre alt.«

»Geilheit ist ein Lebenselixier.«

»Das wäre mir neu, Steven. Von dir habe ich das Gegenteil erwartet.«

Bruder Stevens Augenbraue rollte über seine Stirn. Er lenkte seinen Blick auf Hayes.

»Er hat Ihnen sicher gesagt, dass ich ein Weiberfeind bin, nicht wahr?«

»Ja, das hat er.«

»Nun, ich kann Ihnen sagen, dass ich lediglich an optimierten Prozessen und effektiven Handlungen interessiert bin – was das Leben als Vater und Liebhaber kategorisch ausschließt.«

»Bis heute habe ich dich nicht einmal mit einer Frau sprechen hören. Damals als Kinder, da …«

»Als Kinder …«, warf Steven ein, hob seine Hände und ließ sie auf den schweren Holztisch fallen. »Du weißt nichts von mir, mein lieber Bruder. Du sitzt in deinem Apfelhain, betrachtest die Bienenstöcke, braust Most und Honigwein, betrinkst dich ständig und glaubst, die Welt zu kennen.«

»Dein Wein …«, unterbrach ihn Johann, wurde aber sofort von Hayes zur Ruhe gebeten, indem sie aufstand, sich über den Tisch beugte und die Brüder mit einem Blick bedachte, der geschmolzenes Glas zu Erstarren gebracht hätte.

»Ihr Wein ist der Grund, wieso der Erzpriester Lyark zur Burg gekommen ist. Ihr Wein ist furchtbar geworden während der letzten Jahre. Ich bin hier, weil er verschwunden ist und ›Er ist geflohen‹ oder ›Er hat ein Liebchen im Dorf‹ ist für mich nur ein Teil der Lösung. Ich bin Hayes und auch wenn Ihr Aracus-Priester davon redet, wie gut euer Gott ist, wurde ich beauftragt, das Problem zu lösen. Also …«, sie blickte sich um, »zeigen Sie mir die Burg und die Gemächer der Männer und das Zimmer Lyarks. Es wird spät und die Schatten werden lang.«

Die blassen Gesichter der beiden Brüder nickten im Takt.

»Gut so. Also?«

Eine Stunde später versank die Sonne hinter den nahen Hügeln. Fackeln, die in eisernen Halterungen steckten, wurden angezündet. Das Innere der Burg wurde vom Flackern der Flammen erleuchtet. Die Männer, die sich bislang um die Ernte des Weins gekümmert hatten, saßen an einem langen Tisch, der ähnlich einem U geformt war, an dessen Unterseite die beiden Brüder und Hayes saßen. Sie löffelte die ungewürzte Suppe aus Gerste, einem Hauch Gemüse und ein wenig gewässertem Speck. Der Raum kaute nur, niemand sprach ein Wort. Wasser wurde ausgeschenkt, gestreckt mit dem scharfen Aroma von Weinbrand, der in seiner konzentrierten Form sicher die Haut in den Kehlen der Männer aufgelöst hätte. Als das karge Mahl beendet war, wurde ein kurzes Gebet gehalten, dann marschierten die Mönche in ihre Zellen, ohne einen einzigen Blick auf den Gast geworfen zu haben.

»Sie sind strebsam, still und devot«, meinte Bruder Stephen, als Hayes ihn nach den Männern gefragt habe. »Sie dienen Aracus. Und seien Sie nicht traurig, Frau Hayes. Sie sind keine Gefangenen hier, haben keine menschlichen Verträge unterschrieben. Sehen Sie, die meisten Männer hier waren einst schlechte Menschen, Schurken, Mörder, Halsabschneider, Betrüger, … Schänder. Sie waren Trinker, rauchten die unheiligen Blätter aus Xiotor …«

»Trinker auf einem Weingut.«

»Ja«, lächelte Bruder Stephen. »Hier zu arbeiten ist ein Privileg – und das würden sie verlieren, wenn sie ihren Lüsten zum Opfer fallen würden.«

»Aber Sie sagten, sie wären keine Gefangenen. Was bedeutet es, dieses Privileg zu verlieren?«

»Sie müssten die Burg verlassen.«

»Das ist es schon?«

»Alles ist schlimmer, wenn man nicht in der Burg ist …«, murmelte Bruder Stephen und Bruder Johanns Gesicht verdunkelte sich für einige Augenblicke.

»Haben die Männer etwas von Bruder Lyark gesehen?«, fragte Hayes.

»Sie sprechen nicht. Sie arbeiten, essen und schlafen. Alles für die Burg, alles für Aracus.«

»Hayes, wir sollten aufbrechen«, meinte Bruder Johann.

»Aber nein doch«, antwortete sein Bruder. »Bleiben Sie hier, Hayes. Morgen werden Sie mehr sehen als heute. Vielleicht hat der Erzpriester etwas hinterlassen, bevor er unsere kleine Festung verlassen hat. Sie können in seinem Quartier schlafen.«

»Wenn Bruder Johann auch bleibt …«, meinte Hayes.

»Warum?«

»Weil vier Augen mehr sehen als zwei. Außerdem möchte ich ihm den Weg ersparen.«

»Natürlich«, lächelte Bruder Stephen, doch seine Augen blieben starr. »Natürlich«, wiederholte er.

»Was ist der wahre Grund?«, fragte Bruder Johann.

»Was?«

»Wieso ich hier bleiben soll? Sie wissen, ich bin kein Freund meines Bruders und die Entfernung zur Brücke sind drei Meilen. Der Weg ist gerade. Es gibt keine Abgründe, keine Wölfe, keine Monster …«

»Monster gibt es hier, Bruder Johann.«

»Nennen Sie mich Johann, Hayes. Wir sind beide alt genug, um uns nicht hinter irgendwelchen Vorgaben zu verstecken. Außerdem sind wir Menschen.«

»Gut, Johann. Ich traue Ihrem Bruder nicht. Und ich glaube nicht, dass Sie mich angelogen haben, wenn es darum geht, dass er Frauen hasst. Er hat mit mir gesprochen, aber ich konnte erkennen, wie schwer es ihm fiel und gleichzeitig merkte ich, wie sehr er das Bedürfnis dazu hatte.«

»Und ich hatte gehofft, er habe sich geändert. Nun ja, ich habe ihn lange nicht mehr gesehen. Aber Sie haben Recht. Außerdem bin ich unsicher hinsichtlich der Mönche.«

»Sie wirkten, als wären sie unter dem Bann einer anderen Macht.«

»Ja. ›Die Strafe ist es, die Burg verlassen zu müssen.‹ Was für ein Schwachsinn.

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