Hayes – Giftiger Wein – Kapitel 5

Hayes – Giftiger Wein – Kapitel 5

Der Mond hing am Himmel und sein Zwillingsbruder ein halbes Dutzend Minuten entfernt. Einige Sterne tanzten unaufhaltsam, jedoch vorsichtig, über den Himmel, umgeben von wolkenloser Stille.

Auch die Burg nahm an diesem Ritual teil, jenem nächtlichem Schweigen. Der Herr des Himmels Aracus, wachte auf der anderen Seite dieses Balls aus Erde, Wasser, Mensch und Tier – in dieser Reihenfolge.

Hayes lag auf ihrem harten Lager und rührte sich nicht. Ihre Augen fixierten die schwarze Decke über ihr. Ihre Hände lagen an ihrer Seite, die Finger ausgestreckt. Jeder Atemzug unterlag ihrer Kontrolle. Jedes Geräusch, jedes Flackern eines Lichts außerhalb des offenen Fensters setzte sich in ihrem Verstand fest, formte ein Abbild der Umgebung.

Die Kammer war winzig, nur für eine Person geeignet, doch man hatte für Johann eine Decke auf den Boden gelegt. Die Brüder hier hatten augenscheinlich keine Gedanken an jener Art unkeuschen Denkens verschwendet, das andere Gemeinschaften als ihren essentiellen Sinn definierten. Die Geschichte, dass ein Abt oder ein Bruder sich heimlich vom Land stahl, um im Dorf seine Liebste oder wen auch immer mit seiner Zeit zu beglücken, schien real zu sein. Dennoch war es hier so still dass jeder Schritt auf den Steinen, jeder Fuß auf der fetten und von der Spätsommersonne satten Erde des Weinbergs einen Abdruck in Hayes Ohren hinterlassen hätte. Es war nicht nur still, sondern drückend betäubend hier. Jeder Atemzug, jeder Herzschlag schien meilenweit entfernt zu sein und nur mit großer Verzögerung heranzurollen, ähnlich einer Brise, die von den Monden auf die halb nur sichtbare Welt unter ihnen gepustet worden wäre. Die Luft nahm Formen an, Gedankenspiele eines wachen Geistes, der mit seinem schlafenden Körper kämpft. Hayes kannte die Kraft ihres Willens. Schon als Kind hatte sie den Worten lauschen müssen, die unsichtbare Münder nur handbreitweit von ihrem Kopf geflüstert hatte. Damals hatte sie sich in die körperliche Freiheit drängen müssen, doch mit der Zeit hatte sie die Kraft dieser Begegnungen schätzen gelernt, hatte einen Waffenstillstand, fast schon einen Friedensvertrag mit den Gestalten geschlossen, die in den finsteren Ecken der Räume oder Höhlen hausten, in denen sie unterkommen musste.

Johann rührte sich in seiner Ecke, warf sich umher, als wäre er ein Tier, das es nicht schaffte, Ruhe zu finden. Seine Zähne knirschten. Worte tauchten auf, verschwanden wieder, leise Flüche. »Bei Aracus«, murmelte er, »kein Bett, keine Decke, kein …«

»Ruhe«, antwortete Hayes, »wir sind keine Gäste.«

»Oh, wach?«

»Wie könnte ich schlafen? Seit Stunden …«

»Ja ja, ich weiß. In meiner Zelle steht ein echtes Bett mit frischem Stroh jeden Neumond. Sogar mein Fenster lässt sich schließen. Aber hier …«

»Das ist kein Kloster, Johann. Das ist ein Gefängnis.«

»Natürlich. Aber …«

»Nichts aber. Ich glaube, man unterschätzt die Notwendigkeit von Reue in Verbrechern und Reue kommt vom ständigen Drang, sich aus seiner Vergangenheit zu lösen. Aber schau dich um«, meinte sie. »Das Fenster hat kein Gitter. Während der Arbeit und nach der Arbeit tragen die Männer weder Ketten noch Schellen. Sie könnten fliehen. Aber sie wollen nicht.«

»Oder sie dürfen nicht. Aracus …«

»… ist weit entfernt von dieser Welt und es ist Nacht. Mag sein, dass ich nicht an Schicksal glaube oder daran, dass man erwählt wird.«

»Wie spät ist es wohl?«, fragte Johann.

»Kurz vor Mitternacht«, antwortete Hayes. »Die beiden Monde scheinen durch das Fenster. Zu dieser Zeit im Jahr geschieht das …«

»Das war eine rhetorische Frage, Hayes. Ich bin ausgebildet genug, um …«

»Sh«, murmelte Hayes. »Hören Sie?«

Aus dem Nichts der Nacht, aus der betäubten Finsternis, rollte langsam und überaus vorsichtig ein Ton heran, getragen von einem Dutzend Kehlen, eine dumpfe Melodie ohne echten Klang, ohne Rhythmus, ohne Sinn, aber dennoch real. Jeder Mund, der sich öffnete und schloss, war gefüllt von seiner eigenen Anbetung, Sehnsucht – und dennoch war auch Furcht zu hören, ein namenloser Schrecken, ohnmächtige Verehrung.

Hayes richtete sich vorsichtig auf, lehnte sich auf ihren rechten Arm und schaute Johann an.

»Ist das üblich?«

Er schüttelte den Kopf, verzog das Gesicht. »Dererlei Lieder haben wir nicht, besonders nicht um diese unheilige Zeit.«

»Ja, das habe ich vermutet.« Hayes setzte sich auf und verließ das Bett.

»Sie wünschen?«, fragte eine kratzende Stimme aus der Lücke des Türspaltes.

»Nichts«, antwortete sie, schloss die Tür wieder, schlich zurück und setzte sich. »Da draußen stehen drei Männer, einer direkt vor der Tür, die beiden anderen gegenüber, aber nur ihre Schatten sind zu sehen.«

»Dann sind wir hier augenscheinlich eingesperrt. Dann kann ich ja weiterschlafen.«

»Stehen Sie auf, Johann. Wir werden heute Nacht sich nicht schlafen.«

»Wir sind eingesperrt.«

»Nein, sind wir nicht«, sie deutete zum Fenster.

»Hervorragende Idee, Hayes. Ganz hervorragend.«

Minuten später tastete sich ein Paar Hände über die von Wind und Wetter und Zeit zerfurchte Außenwand der jahrhundertealten Burg. Hayes’ Finger brannten, ihre Fingerkuppen bluteten, aber der Schmerz war gut genug, um sie am Leben und den Schlaf fernzuhalten. Johann stellte sich allerdings an, als hätte er nie im Leben den festen Boden verlassen. Seine Schuhe kratzten über die dicken Ziegel, die in unregelmäßigen Abständen aus der Mauer ragten. Hayes bereute schon, ihn gezwungen zu haben, mitzukommen, aber sie konnte nicht riskieren, ihn zu verlieren. In ihrem Kopf hing bereits das Bild der wahrscheinlichen Erklärung für den Gesang und für die Weigerung der Männer, zu fliehen. Wieso aber der Erzpriester verschwunden war, das stand noch in den Sternen – oder besser, in der Tiefe unter der Burg, in den Gewölben, die solche alten Bauten hatten.

Hayes erreichte einen Punkt, an dem auch sie nicht mehr weitergehen konnte. Hier wurde die Mauer weniger brüchig, fast schon glatt. Sie blickte sich um und lächelte.

»Springen Sie, Johann«, meinte sie und blickte den nur wenige Ellen entfernten Mann an, dessen Gesicht vor Panik leuchtete, als wäre er ein vierter Mond. Oder ein dritter Mond, je nachdem. Doch für Philosophie war keine Zeit. Besonders nicht für Bruder Johann, dessen Mund sich in Terror verzog. »Drehen Sie sich nicht um.«

Sie ließ sich fallen. Bruder Johanns Hand löste sich vom Stein, versuchte mit dieser Reaktion wohl, sie aufzuhalten, doch nun verlor er den Halt und folgte ihr in die Finsternis.

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