Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 1

Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 1

Ah, diese Erinnerungen. Sie kommen, sie gleiten dahin, schattenlose Wolken an einem endlosen Himmel.

Hayes öffnete die Augen. Dunkelgrüne Blätter krochen durch ihr Sichtfeld, schwankten hin und her. Ein leiser Wind brachte die Zweige zum Beben. Bienen und andere unsichtbare Tiere summten umher. Der frühe Frühling hatte sich mit einer Gewalt angekündigt, die fast unnormal schien, aber dies lag am Sturm, dem zimtfarbenen Sturm. Oder war das eine Erinnerung an eine mögliche Zukunft.
Sie richtete sich auf. Helga, ihr tapferes Pferd, graste in der Nähe. »Eine gute Idee«, murmelte Hayes, zerrte einen Halm aus dem Gras und begann, auf ihm herumzukauen. Die Frische des neugeborenen Grashalms fühlte sich an, als ob ein neues und gutes Jahr vor ihr lag. Sie legte ihren Kopf zurück, schloss die Augen.

Ein Schatten trat vor sie. Sie lächelte, hatte ihn bereits gehört, als er vor 5 Minuten gestoppt hatte, von seinem Pferd abgestiegen war und sie betrachtet hatten, als wäre sie eine Elfe. Eine Elfe in Menschenform, fast so groß wie eine dieser verlorenen Kreaturen, aber deutlich fleischiger. Ja, Hayes konnte die Gesichter der Männer lesen, wenn sie an ihnen vorbeiritt. Auch die Augen der Frauen, die einen Hauch von neidischer Verachtung ausstrahlten, machte ihr Leben interessanter.

Der Mann musste um die Ende 30 sein. Die wenigen Haare, die unter seinem Lederhelm in seine Stirn ragten, waren schon halb vom Alter gefärbt, Salz und Pfeffer, wie es Leute nannten. Seine Kleidung war die eines Kriegers, aber deutlich besser, als ob er nun, in der späten Blüte seines Lebens, endlich eine Stelle gefunden hatte, die weniger mit Krieg – und dem zugehörigen Kampieren, Marschieren und Trainieren – zu tun hatte als mit dem Überbringen von wichtigen Nachrichten und der Aufsicht über Untergebene. Er verzog sein Gesicht, als er merkte, dass Hayes ihn unter ihre halbgeöffneten Augenlidern anschaute.

»Frau Hayes«, sagte er. Seine Stimme trug den Stempel eines Menschen, der Befehle befolgte und verteilte. Er nuschelte ein bisschen, als trüge er nicht alle Zähne in seinem Mund und Hayes konnte nun sehen, dass eine Narbe über seine rechte Wange kroch. Der alte, halbverheilte Riss in seinem Mundwinkel zuckte.
»Guten Tag.« Hayes wollte höflich sein. Sie war noch nicht lang in dieser Gegend, doch sie konnte an ihrem Besucher erkennen, dass man sie kannte – und etwas von ihr wollte.
»Frau Hayes, ich …« Er stoppte, blickte sich um. Seine Finger zitterten. Selten hatte er solcherlei Reaktion erlebt, einen Mangel an Respekt, der ihn fast wahnsinnig machte. Doch seine Aufgabe war deutlich wichtiger als sein persönliches Empfinden.
Hayes richtete sich auf, stand auf, klopfte die Reste von Gras von ihrer Kleidung, handgefertigt im Norden, doch hier fast schon zu viel. Sie konnte sich dennoch beherrschen, zog jedoch ihre dünne Lederjacke aus, zeigte so ihre Arme, die in einigen Ländern zu verzerrter Angst geführt hätte. »Ja, das bin ich. Mit wem spreche ich?«

Der Mann streckte seinen Rücken durch, zog den Bauch ein, salutierte. Zumindest wirkte es so.
»Frau Hayes. Ich komme im Auftrag seiner Majestät, König Satic von Äuatien.« Seine Augen starrten in die Ferne, hinter die Hügel, die vom hellen Frühlingshimmel bedeckt wurden. Einzelne Bäume waren noch immer von Resten alten Schnees bedeckt, doch der endlose Schatten der Steinwände wirkte wie eine Drohung des vergangenen Winters.
»Ich bin also in Äuatien. Ich kenne dieses Land noch nicht«, meinte Hayes und lächelte so unverbindlich wie möglich.
»Wir sind ein frisches Land, ein neues Land. Vor 4 Jahren hat Seine Majestät den grausamen alten Herrscher Humb… nun, der Name tut nichts zur Sache … vor 4 Jahren also wurde dieses Land befreit und die anderen drei Länder in seiner Umgebung haben sich freiwillig angeschlossen. Es war ein langer Kampf, die Länder zu vereinigen und wir sind stolz darauf, Teil dieser großen Aufgabe zu sein.«

Gesprochen wie in wahrer Soldat. Hayes nickte. Die Anerkennung der Taten des Mannes vor ihr war überaus wichtig. Ein Teil seiner Persönlichkeit, ein großer Teil seiner Persönlichkeit war fest mit der Relevanz seiner Aktionen verbunden.

»Frau Hayes. Sie müssen … ich bitte Sie im Auftrag Seiner Majestät, mich zu begleiten. Es ist etwas furchtbares geschehen und wir haben schon viel von Ihnen gehört. Es ist dringend.« Sein Körper zuckte, kämpfte gegen die Hab-Acht-Stellung, in der er zu verweilen drohte. Er hatte lang nicht mehr salutiert – und noch länger etwas erbeten.

»Und was wäre das?«, fragte Hayes.

»Es geht um Prinzessin Amalia-Annegrete-Asporita, vom Volk als Prinzessin Amalia geliebt und verehrt. Sie kämpft gegen die Tücken des Hungers im Volk. Ihre Arbeit mit den Armen im Lande ist eine Legende, in Wort und Schrift. Das Volk singt Loblieder und fleht, dass die Prinzessin einen guten Mann fände, einen wahren König in Herz und Blut.«
»Und den soll ich finden?«
»Nein, meine Dame. Das ist nicht das Problem. Sehen Sie, die Prinzessin ist verschwunden, genauer gesagt: Sie ist entführt worden. Bitte helfen Sie uns, helfen Sie Äuatien. Seine Majestät ist außer sich. Das Volk leidet. Die Zukunft des Landes steht auf dem Spiel!«
»Wegen einer Prinzessin?«
»Frau Hayes« Die Stimme des Mannes verlor die Fassung. »Frau Hayes. Wenn die Prinzessin nicht auftaucht, dann gibt es Krieg. Verstehen Sie, was ich sage? Krieg.«
»Aber wieso?«
»Das erkläre ich Ihnen gerne später. Das Schloss seiner Majestät ist einen halben Tag entfernt. Wir müssen uns beeilen. Die Zukunft des Landes steht auf dem Spiel!«
»Das haben Sie bereits gesagt, Herr …?«
»Natürlich. Verzeihen Sie.« Er nahm den Helm ab und verneigte sich kurz und zackig. »Mein Name ist Bernhard von Siep-Zeilip, Kommandant der inneren Wache seiner Majestät …«
»Und seiner Familie, nehme ich an.«
»Natürlich!«
»Und die verschwundene Prinzessin ist auch Teil ihrer Aufgabe …«
»Ja«, meinte Bernhard von und zu.
»Ich bedauere, dass Sie …« Hayes schwieg. »Es tut mir leid, aber ich habe andere Aufgaben. Die Grenze von San Florias …«
»San Florias?« Er schüttelte den Kopf. »Wir brauchen Sie hier. Seine Majestät …«
»Hat vermutlich genug Geld, um sich die besten Agenten, die besten Mörder, die besten Fährtenleser und Magier zu leisten, die man für Geld kaufen kann.«
»Natürlich«, murmelte er, »aber diese ganzen Leute sind uns nicht empfohlen worden.«

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