Hayes – Giftiger Wein – Kapitel 1
Hayes reiste nur ungern über die belebten Straßen Uruks. Die wenigen Reste der alten Zivilisation hing wie alte Zähne hinter den gemauerten Häusern, Lehmhütten und Zelten, die die letzten Meilen bis ins Zentrum der Stadt säumten. Die Leute starrten sie nicht nur an, sondern belagerten sie förmlich, bettelten um Geld und Aufmerksamkeit. Selbst Hayes persönliches Wappen, eine Klinge, die Blitze abstrahlte, zeigte keinen Erfolg, hielt niemanden davon ab, seine eigenen persönlichen Bedürfnisse oder Angebote in ihre Richtung zu kreischen.
Hildegard tänzelte zwischen den aufgeschreckten Menschen hin und her. Hayes streichelte ihren Hals, als ob dies etwas nützen würde. Dennoch war das Pferd aufgeregt und es wurde schlimmer, je näher sie ihrem Ziel kam. Der Marktplatz war von Tempeln eingesäumt, jeder einer anderen wichtigen Gottheit gewidmet, doch die meisten waren kaum besucht. Ihre Fenster waren nicht mehr geputzt worden, an ihren Säulen wanderte alter Efeu empor. Nicht einmal die Stimmen hunderter Flöten und Trommeln, das Kreischen der Marktbesucher oder das Bellen der hungrigen Hunde hatten die Fähigkeit, die dicken grünen Wände zum Beben zu bringen.
»Hey, ihr da! Weg!« Eine Handvoll bronzegekleideter Männer mit finsterem Blick und Lanzen, die aussahen, als wären sie hundert Jahre alt, bahnte sich den Weg durch die Menschenmenge, hieb nach rechts und links, schafften sich Bahn inmitten der Bettler und Verkäufer und blieben vor Hayes stehen. Der Anführer zwirbelte seinen grauen Bart. Seine Augen betrachteten die hochgewachsene Frau mit einer Mischung aus Angst, Respekt und purer Begierde. Er musste ein Priester sein, ein typischer Priester des Aracus.
»Wollem?«, fragte sie.
»Adept Wollem«, meinte er.
»Sie sehen zu alt aus, um ein Adept zu sein«, antwortete Hayes.
»Unser Erzpriester erfreut sich blendender Gesundheit, von daher werde vielleicht noch viel länger Adept sein.«
»Wo ist er? Er hat mich gerufen. Er …«
»Nein«, meinte Adept Wollem. »Ich habe Sie gerufen.«
»Sein Siegel …«
»habe ich benutzt. Wissen Sie … es gibt Probleme mit dem Erzpriester und wir benötigen Ihre Hilfe. Aber lassen wir das Reden hier, inmitten des Pöbels. Folgen Sie uns bitte.«
Im Zimmer war es deutlich ruhiger als in der menschlichen Wildnis des Marktplatzes. Vögel zwitscherten in den Bäumen des angrenzenden Gartens. Durch das Fenster kroch eine milde Brise in den Raum. Hayes setzte den Becher ab, leckte sich die Lippen.
»Das ist ein guter Jahrgang«, meinte sie.
»Ja, von vor 5 Jahren«, antwortete Wollem. »Noch einen Becher?«, fragte er.
Hayes schüttelte den Kopf. »Ich möchte bei klarem Verstand bleiben und meine Fähigkeiten schätzen es, wenn ich nüchtern bin. Was kann ich für Sie und für den Erzpriester tun?«
Wollem setzte sich. Der Stuhl knarrte unter ihm, als würde er deutlich mehr wiegen es als seine schmale Gestalt es erlaubte. Er betrachtete Hayes, senkte seinen Blick, lächelte.
»Der Erzpriester ist vermutlich in Kontakt mit Mächten, die unser Glaube nicht erlaubt. Aracus, heilig ist Sein Name, stark ist sein Feuer, gerecht ist seine Gnade, verbietet es. Magie selbst ist eine Kraft des Chaos und Aracus kämpft für die Ordnung, aber …« Er stoppte, schaute Hayes wieder an.
»Ich weiß, dass Sie Magie nutzen, deshalb habe ich so lange gewartet, bis ich Sie suchen ließ. Ein Monster nutzen, um andere Monster zu bekämpfen«, er lachte leise.
»Sie müssen verzweifelt sein.«
»Und wie … wie Recht Sie haben. Aber es ist kein Monster, das ich finden will. Es ist schwierig zu erklären.«
»Versuchen Sie es einfach.«
Er schwieg, räusperte sich. »Sicher. Ich habe Ihnen diesen Wein eingeschänkt, weil er tatsächlich der letzte gute Jahrgang war, den wir hier hatten. Die Weinberge, die unserem Tempel gehören, liegen einen Hauch außerhalb Uruks, 4 Meilen vor der Stadt. Dort, wo die Berge beginnen, an den Südhängen, dort hat der Tempel mehrere Morgen Land. Es war eine Schenkung eines unserer verstorbenen Barone, damit wir für seine Seele beten, die gerade die Feuersümpfe der Nachwelt durchwandert. Wissen Sie, der Baron war kein guter Mensch, fand aber vor seinem Dahinscheiden noch den wahren Glauben und vermachte fast alles unserem gerechten Gott Aracus. Dazu gehören Ländereien in der Ferne und die Weinberge hier in der Nähe – und natürlich auch sein Sommerdomizil, eine kleine, aber feine Burg, die wir als Lagerstätte und als Kelterei betreiben. Für 20 Jahre nun keltern wir Wein, aber während der letzten 4 Jahre wurde die Qualität schlechter. Der Wein selbst, die Trauben also, diese sind völlig in Ordnung, sehr süß und prall, wie … naja. Süß und prall. Doch wenn wir die Reben geerntet und gepresst haben, in Fässer gefüllt haben, um Wein zu machen … also schon während der ersten Tests beginnt der schlechte Geschmack hervorzustechen. Der Wein ist kein Essig, er ist nicht sauer, aber er schmeckt falsch. Wenn wir ihn dann auskippen, finden wir Reste einer … Substanz darin. Wir haben neue Fässer machen lassen, neue Scheren für die Reben, neue Pressen … alles wurde neu angeschafft. Nichts half. Die Arbeiter wurden geprüft, keiner war krank. Die Priester haben sich Reinigungsritualen unterzogen, auch dies war ohne Erfolg.
Die Arbeiter begannen, von einem Fluch zu reden und auch die Drohungen unserer Mitbrüder halfen nicht, diese dauerhaft zu unterbinden. Man redet von Wesen, die in der Nacht durch das alte Gemäuer wandern und deren Existenz Reaktionen im Wein auslöst, ähnlich einer Hand in einem Wasserstrahl … man merkt es erst später.
Nun … der Erzpriester selbst hat nach einem Exorzisten gefragt, aber seine Eminenz, die ihren Sitz in Äuatien hat, hat dies abgelehnt. Er selbst trinke eher Wasser als Wein und es sei besser, den Fluch als Segen zu betrachten, um die vieltausend Sklaven des Alkohols zu befreien. Nun, er hat nicht Unrecht, dennoch glauben wir in Uruk, dass Wein ein Teil der Freude ist, die erlaubt, lange zu leben. Vielleicht sind dies auch Reste der alten Götter, die mit uns Narren spielen, aber ein Priester darf nie der Feind der normalen Menschen sein, sondern ein Freund. Strafen halten Menschen nieder, aber Güte führt sie zu Gott. Gerecht ist Aracus, klug sind seine Weisungen.«
Willem stand auf und wanderte zum Fenster, blickte hinaus. »Von hier aus kann man die Ausläufer der Berge sehen. Der Erzpriester stand hier stundenlang, als würde er versuchen, den Grund zu finden, was mit dem Wein geschah.«
»Und, fand er ihn?«
»Vermutlich. Er hat etwas gefunden, aber …«
»Aber?«
»Seit 2 Monaten ist er verschwunden. Und der Wein … ist noch schlechter geworden.«