Medea

Medea

Wo das Ende liegt, das wissen wir nun. Doch der Weg dorthin und der Anfang, das sind noch immer Rätsel, die aufgedeckt werden müssen. Zeit und Raum wird zu einem abstrakten Konzept, hier unten, in diesen Höhlen, die der Mensch oder die Natur erschaffen hat – doch ist nicht die Natur selbst ein Teilgebiet der Menschheit – oder ist es andersrum? Worte erschaffen sich nicht selbst, also muss es eine Basis dafür gegeben haben. Worte wie Sonne, Mond, Himmel, Licht … Worte wie Nahrung, Blut, Wesen.

Die Gänge, durch die wir wandern, durch die wir gezogen werden, von Schicksal oder herrischem Gott, kratzen, beißen. Blut oder das, was man dafür hält, Öl, Maschinenöl, wer weiß das schon? Gedanken werden unterbrochen von Schlaf. Doch der Schlaf bringt die Träume und das Erwachen bringt Schlimmeres.

Es gibt Bücher, zumindest das Konzept von Büchern, Buchstaben, die sich zu Worten verbünden, zu Sätzen anwachsen, die dann Seiten füllen, leuchtende Blätter, so zerbrechlich und hilflos, dass niemand sich traut, sie zu lesen, sie zu erfassen. Viele Dinge sind zerbrochen, zu Schleim zermalmt worden, atomisiert, wie man sagt. Und dann erfasst eine Welle unser Leben und etwas Vergangenes rollt in die Höhe, bohrt sich durch die Felsen und verlässt die sichere Sphäre unserer Sinne.

Und es begab sich, also die Erinnerungen selbst sind in Mythen verschwunden, weniger Sagen, mehr Vertrauen auf die Wahrheit des Essentiellen als die Namen von Verantwortlichen zu erkennen.

Also begab es sich so, dass dereinst ein Mensch lebte, sei er Mann oder sie Frau gewesen, die sehen musste, dass ihr das Leben entrissen wurden. Nicht ihr eigenes Leben, sondern das ihres Kindes. Und sie war klug, mehr als genial, so die Legenden. Und sie trauerte tief, trauerte über alle Zeiten hinweg, trauerte endlos, bis sie sich entschloss, Leben zu schaffen, das nicht beendet werden kann, nur unter dem eigenen Willen, das eigene Los zu beenden. Und sie schloss sich in ihr Haus ein und das Haus hinter einen Zaun und das Grundstück vor einem Felsen, der bis ins Innere des Planeten kroch wie ein Zahn, ein dummer Zahn aus Granit. Und sie rechnete mit ihren Computern, die mehr verlangten als nur Zeit und Licht. Sie nutzte die Kraft der Sonne und des Windes und auch das reichte nicht aus. Und sie nutzte die Kraft des Atoms, der stärksten aller Quellen und, ach weh, ihre Computer schienen schwach zu bleiben vor dem Gedanken der Unendlichkeit – denn auch die Frau wurde alt, so die Legenden, und sie kämpfte in den Tiefe ihrer Seele mit dem Tod und der Tod selbst wich vor ihr zurück und erlaubte ihr stets einen Hauch mehr an Leben, eine Minute mehr an Zeit. Und endlich, bei aller Macht, die ihr Zeit und Tod und Willen und Trauer gaben, erschien ihr das Licht. Und sie öffnete die Fenster und blickte hinaus in die Nacht und gleichzeitig in das Licht. Denn die Welt hatte sich gewandelt, war gewachsen, hatte die Einsamkeit, die sie benötigte, in ein Meer aus Glühbirnen, ein Strom aus metallenen Wagen, verwandelt. Endlose Straßen krochen dahin, gefüllt von Menschen, von denen keiner wusste, warum er dies tat. Der Himmel schwamm im orangen Licht toten Nikotins. Die Sterne mussten erloschen sein. Der Boden vibrierte vor Grauen und der Wissenschaftler ebenso. Und er fiel auf die Knie und bat um die Erleuchtung und in jenem Augenblick wandte sich das Auge des Kosmos an sie, hüllte ihre Gedanken ein, zeigte ihr alles, was sie wissen musste. Und sie wusste, dass es keinen Weg zurückgab. Und sie ging zurück in ihre Einsamkeit und ließ ihre Computer kreischen und arbeiten und ihr dienen. Und bald, als wären die letzten Ewigkeiten nur die Vorbereitung auf die Erkenntnis geworden, bekam sie die Antwort auf ihre Frage nach der Unsterblichkeit und ihr graute es. Ihre Augen weinten ein letztes Mal, doch der Schritt war notwendig. Und sie erschuf eine Maschine, eine Maschine, die die Hölle selbst in Entsetzen versetzt haben musste, so es sie gab. Doch sie war bereit, diese Welt, durch deren Inneres wir wandeln, in den unendlichen Abgrund zu werfen, der unsere Existenz beherrscht.

Und die Änderungen glitten durch die Reihen der Menschen: Millarden von Millarden feinster Kreaturen, aus Metall und Fleisch geformt, krochen aus der Maschine, hüllten sich in heiße Luft ein und rasten durch die dicken Luftrohre hinaus in die Welt hinaus, bohrten sich in Haut und Augen, in Lippen und Nasen, in Hirne und Knochen, unsichtbar klein, unhörbar leise. Und doch, das Brummen und Glitzern jener Wolken war für Augenblicke erlebbar, bevor die ersten Menschen zu Boden fielen und sich in Krämpfen wandten. Wellen des Terrors rollten über die Städte der Menschheit dahin. Mauern wurden errichtet, Mauern aus Stahl und Stein und Licht, doch die winzigen Wesen lachten und krochen durch die Lücken und labten sich am Fleisch der Lebenden.

Und der Tod lachte und weinte, denn er konnte sehen, was geschehen würde und er selbst fürchtete sich und die Legenden sagen, dass auch er ein Teil von uns ist, von jenen, die überlebt haben. Doch was ist Überleben, wenn wir nicht wissen, was wirklich und was Traum ist? Was ist das Leben, wenn es weder Sonne noch Licht, weder Luft noch Wasser, weder Bäume noch Sträucher, Tiere oder Pilze gibt? Doch das sind alles Worte ohne Bedeutung. Denn die unerhörten Wesen, diese winzigen Maschinen es ewigen Lebens krochen in jedes Lebewesen der oberen Welt, töteten sie und erschufen sie gleichzeitig neu. Unsere Existenz ist ewig, doch Licht bringt Schmerzen, schlimmere Schmerzen als die Hoffnungslosigkeit in der Tiefe unter der toten Welt, die die Vorfahren Erde nannten, Erde, Terra, Diesseits. Es gibt keine Erlösung von der zeitlosen Existenz, vom Kratzen des Steins auf dem, was wir Fleisch nennen, denn wir jagen durch die Höhlen, die wir selbst geschaffen haben, die wir schon wieder vergessen haben – wir rollen, schlurfen, quellen durch die endlose Nacht auf der Suche nach dem Tod, doch er selbst ist verschwunden, ist Teil der endlosen zähen Masse geworden, die einst den Himmel erobern wollte und auf ewig verdammt ist.

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