Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 8.1

Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 8.1

Die Wege der Welt sind voller Geheimnisse, nur dieser war obendrein gefährlich. Auf der rechten Seite hing der Abgrund, wartete auf Futter, wartete auf dumme Beine, die ihrer Angst freie Bahn ließen. Dann würden sie den Halt verlieren und zu Nahrung werden, zu einem feinen Brei aus Knochen, Fleisch und vergessenen Schreien, wenn sie unten ankamen – und vielleicht noch lebten. Das wäre sicherlich das Festmahl des Jahrhunderts, denn hier war seit Ewigkeiten niemand mehr abgestürzt, was daran lag, dass niemand überhaupt hier entlang geritten war. Außer jetzt.

Hayes und das Pferd unter ihr, dessen Namen sie nicht kannte, waren keine Einheit von Reiter und Pferd, eher waren sie noch immer getrennte Wesen, die irgendwie versuchten, sich nicht gegenseitig in den Tod zu stürzen. Außerdem wusste das Tier offensichtlich, welche Steine auf dem Weg sicher waren und welche nicht. Vielleicht war eines seiner Verwandten ein Maultier und der Sprung zwischen den beiden Spezies geistig gesehen deutlich geringer als gedacht. Das andere Pferd hatte Hayes vor der Schlucht freigelassen, hatte ihm aber Zaumzeug und Sattel abgeschnitten und diese in die Tiefe geworfen. Das Pferd hatte Hayes angeschaut, als habe sie ihm das Korsett ausgezogen, dann war es dankbar davongerannt. Zumindest dachte Hayes das. Tiere waren immer eine eigene Kreation und Helga war ihr noch immer fremd wie eine verlorene Großmutter.

Einzelne Steine rollten über die steilen Felsen auf der linken Seite des Pfades, überquerten die Lücke, auf der Ross und Reiterin dahinschlichen und schossen in die Tiefe. Glücklicherweise waren sie nicht groß genug, um ernsthaften Schaden anzurichten, aber wo kleine Steine sind, sind auch große, aber große Steine sind deutlich geduldiger. Hayes fühlte sich dankbar, dass sie noch immer lebte und dem Pferd ging es offensichtlich sehr ähnlich. Es knabberte nicht einmal an den halb-verdorrten Blättern der winzigen Bäume, die sich in den Rissen im Felsen eingenistet hatten.

Der Tag ging hinter ihr auf. Die Sonne kroch über die Wipfel der Berge wie ein Gast, der verschlafen hat, peitschte auch gleich ihre Strahlen auf die Felswand. Hayes konnte berechnen, dass der Pfad nach Norden wanderte. Das Licht wärmte ihr den Rücken. Müdigkeit kroch durch ihre Muskeln. Sie war sich nicht sicher, ob sie doch schon wieder schlief und das Pferd die ganze Arbeit erledigte. Sicher war es bereits ein paar Male die Strecke gewandert, kannte Tiefen und Höhen. Und Höhlen. Ja, Höhlen. Jemand – ob Mensch oder Natur – hatte Löcher in die Felswände gehämmert oder gebohrt oder gesprengt. Mit Magie oder Menschenkraft.

Die Hufe hämmerten Worte in den steinernen Untergrund. Jeder Atemzug wurde zu einer Trompete, die sie verraten konnte. Hayes konnte nur hoffen, dass die Leute, die die Prinzessin entführt hatten, glaubten, dass sie eine von ihnen wäre. Wer sonst wäre so blöd gewesen, sich aus der Festung in die Tiefe zu stürzen, nur gehalten von einem Seil und einem Flaschenzug, der seit Jahren den Naturgewalten ausgesetzt gewesen war. Wer hatte es angebracht – und wie? Doch das war nicht wichtig. Im Laufe von Jahrhunderten war alles möglich gewesen. Offene Nutzung der Magie. Kriege mit gigantischen Wesen. Kristallkreaturen. Doch die zwei Dutzend Jahrzehnte waren ruhiger gewesen. Doch immerhin gab es noch genug Aufgaben für Hayes.

Sie stoppte das Pferd vor einer Biegung. Auf der rechten Seite hing ein Stück Felsen am Wegesrand, begrünt, mit zwei, drei Bäumen besetzt. Dort war niemand, aber die Erinnerungen an eine Person. Ein Schal, dunkelroter Brokat, hing auf einem der Äste, schwang vorsichtig im Wind. Hayes stieg ab, nahm das Pferd bei den Zügeln und wanderte hinüber. Der Wind wurde stärker, der Schal schwebte mehr zwischen den Zweigen umher als vorher, als wartete er darauf, dass sie ihn nehmen würde. Der Boden knirschte unter ihr. Sie ließ das Pferd doch lieber zurück. Die Augen des Tieres schauten ihr nach, als würde es begreifen, warum sie tat, was sie tat.

Der Stoff war soviel weicher als jede Kleidung, die Hayes je berührt hatte. Sie konnte die winzigen Atemzüge spüren, die Weber und Schneider darin investiert hatten, konnte die Sehnsucht einer Prinzessin darin fühlen und den Drang des Vaters, sie zu beschützen. Sie viel zu sehr zu beschützen.Sie zog den Schal vom Baum, rollte ihn zusammen und drehte sich um. Das Pferd war noch immer da, doch dort, wo sie eigentlich hatte hinreiten wollen, klebten ein Schatten am Felsen. Er war kaum sichtbar und dennoch vorhanden, ein Hauch falsches Dasein auf dem Stein. Er war … falsch. Ja, wiederholte Hayes, falsch. Sie ging zum Pferd, beruhigte es – es war etwas aufgeregt, als ob jemand auf sie wartete –, nahm die Zügel wieder und führte es weiter. Den Schal der Prinzessin hatte sie bereits unter ihre Lederweste gesteckt. Ein solches Stück sollte man nicht entsorgen.

Die falsche Wand hing vor ihr wie das Bild eines Meisters, der mit dem Alter blind geworden war. Sie wirkte nur falsch, weil sie dunkler war als die Umgebung, nur für einen Hauch. Doch diese Dunkelheit war künstlich. Hayes folgte den Rändern, die absichtlich nicht rechteckig geschaffen worden waren, sondern die eins mit dem Gestein hatten werden sollen. Sie suchte nach einem Hebel, nach einem Schalter, einem Seilzug, doch da war nichts, was den Erbauer der geheimnisvollen Tür hätte verraten können. Wäre ein Vogel irgendwo falsch gelandet, wäre das Geheimnis enthüllt gewesen – oder ein Steinschlag hätte dasselbe auslösen können. Sie blickte nach oben. Dort hingen fast hunderte Ellen fast zu glatter Felsen, was auch ein Grund sein konnte, wieso die Bäume auf diesem Felsvorsprung überleben konnten. Diese Stelle hier war absichtlich angelegt worden, vor vielen Jahren bereits. In einer Biegung erwartet niemand eine Höhle und man umrundet sie schnell genug, um sich keine echten Gedanken zu machen.

Die Spitze des Dolches bohrte sich in die Lücke zwischen Gestein und Tür. Hayes drückte härter zu, fühlte einen Widerstand, schob den Griff nach oben. Leise zischend gab die Halterung die Tür frei. Die Tür klappte nach unten auf wie der Unterkiefer eines alten Riesen. Hayes wunderte sich. Es war ungewöhnlich, dass man so Türen befestigte, aber es hatte schon eine gewisse Logik in sich. Die meisten Türen öffneten nach oben oder oder zur Seite.

»Nein«, sagte Hayes zu dem Pferd, das ihr folgen wollte. »Es ist zu eng für dich. Warte.«
Das Pferd reagierte so, als ob es wüsste, was die Reiterin meinte, wieherte leise, was Echos in der Tiefe nach sich zog. Hayes fühlte halbherzigen Zorn aufsteigen, aber wie konnte sie wütend auf ein Tier sein? Sie glitt durch die Öffnung und zerrte die Tür wieder nach oben. Finsternis hüllte sie ein, die sich nach einigen Augenblicken in eine Sieben-Achtel-Dämmerung verwandelte, in der sie einen Hauch von dem sehen konnte, was wirklich existierte. Sie war keine Vampirin, die nachts sehen kann, keine Werwölfin, die alles riechen kann. Sie war ein Mensch, hatte einen Dolch bei sich, den sie seit des Auftrags im Weinkeller nicht wieder hatte einsetzen müssen – und irgendwo lauerte ein Zauberspruch in ihr, den sie schon halb vergessen hatte. Dennoch glaubten Leute, sie hätte spezielle Fähigkeiten, käme aus fernen Ländern, in denen Magie so normal wäre Atmen. Nein, Hayes hatte keine echte Vergangenheit und fühlte keine Notwendigkeit, sie zu suchen. Die Welt war interessant, auch ohne falsche Kenntnisse.

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