Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 7

Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 7

Die Nacht raste an Hayes vorbei, die sich mit Mühe nur an den Griffen festhalten konnte, die am oberen Seil des Flaschenzugs hing. Natürlich musste sie davon ausgehen, dass jemand wie die Prinzessin nicht der Gefahr ausgesetzt gedurft hätte oder wie auch immer – sondern dass sie in ein Gurtsystem eingehängt worden war. Die kostbare Fracht wäre sonst auf dem endlos weit entfernten Boden aufgeprallt, aufgeplatzt wie eine Melone, was eine unvernünftige Alternative dieser Entführung hätte werden können. Nein. Das Blinken in der Ferne zeigte den Plan an.
Über Hayes glitzerten eiserne Sterne durch den forschen Himmel. Die Luft knirschte, doch es war die Kälte, die ihr zu schaffen machten. Und die Entfernung zum Boden, aber das wussten wir schon. Vermutlich lauerten da unten gewisse Tierarten, die nur deswegen existierten, weil ihnen das Leben eine Nische in Form von herabfallenden Lebewesen gebaut hatte. Vermutlich reagierten sie außerdem auf das Geräusch der klappernden Zähne, die sich in Hayes Ohren bohrten, als wären die die fremder Leute.

Das Licht vor ihr wurde größer. Die Lichter hinter ihr mussten zwangsläufig kleiner werden. Hayes hoffte nur, dass das Seil nicht irgendwo in der Mitte durchhing, so dass sie dort stranden würde, stranden und elendig verrecken, während die Sonne auf und unterging, während ihre Hände immer schwächer werden würden. Sicher konnte sie sich auf das Seil stemmen, die Beine nutzen, um sich festzuklammern, aber dann?

Das Rad stoppte. Die Griffe stoppten ebenso. Hayes Körper, der noch immer den Gesetzen der Physik unterworfen war, schoss ein Stück weiter, ihre Hände rissen sich los. Sie flog, für Augenblicke, für Ewigkeiten, irgendetwas dazwischen. Dann landete sie, weich genug, um sich nicht das Rückgrat zu brechen. Aber auch nicht hart genug, um im Duft der tausend Blumen zu versinken, die hier, auf dieser Höhe nie überlebt hätten. Und doch lebten sie und der Duft, der um Hayes aufstieg, wirkte wie der ferne Gruß einer Welt, die viel besser und schöner war als jene, in der sie hatte leben müssen. Aus ihrer Kehle kroch ein leises Stöhnen. Worte fühlten sich unmöglich an, Flüche ebenso. Alle Luft war aus ihrem Körper gefallen und musste mühsam wieder eingesammelt werden. Die Sterne über ihren Kopf, so fern sie waren, so sehr hörte sie ihre Lachen über die witzloseste aller Pointen.

Schritte näherten sich, nackte Füße auf weichem Samt.
»Ist da jemand?«, fragte die Stimme, die an den Füßen hing.
»Blödsinn. Komm zurück«, antwortete jemand anderes, eine schattenlose Gestalt hinter dem Lagerfeuer. »Es ist kalt hier.«
»Ja, schon gut«, antwortete die erste Person, machte kehrt und wanderte zurück. »Warum müssen wir auch hier sitzen.«
»Marie hat uns gewarnt. Sie hat gesagt, dass drüben im Schloss jemand ist, der offenkundig ziemlich intelligent ist.«
»Dort und intelligent? In welcher Hinsicht? Intelligent genug, beim Atmen nicht an der eigenen Spucke zu ersticken? Niemand, der in diesen Gemäuern haust, ist irgendwie intelligent.«
»Und doch hat der König …«
»Ach hör mir auf mit dem König …« Jemand warf frisches Holz ins Feuer. Die Flammen peitschen zum Himmel. Wellen wirbelten über den See hinter dem Feld aus Blumen.
»Die Maschine sollte langsam genug von den Signalen haben, findest du nicht auch?«
»Die Maschine wird die Signale geben, bis der Herr des Landes wieder auf dem Thron sitzt. Das sagt das Gesetz und die Worte des Herrn.«
»Ja, schon gut, ich meine ja nur.«
»Ich habe nichts gesagt, Sobir.«
»Ich habe dir auch nicht geantwortet, Robis.«
»Deine Eltern hätten dich weggeben sollen.«
»Meine Eltern hätten auch dich weggeben sollen.«
Sie lachten. Das Lachen wirkte echt. Dennoch wusste Hayes nicht, wie die beiden aussahen, ob sie Krieger waren oder einfache Landsknechte, Diener fremder Herren. Sie waren eindeutig viel zu entspannt auf dieser Position, augenscheinlich litten sie an der Arroganz, die einige Leute als Hybris bezeichnen würden.
Sie wartete, bis die beiden weiterredeten, dann rollte sie zur Seite und richtete sich auf, blieb aber auf den Knien sitzen. Aus dieser Position blickte sie sich um, blendete das Lagerfeuer mit der Hand aus, so dass ihre Augen die Finsternis besser ertragen konnte. Hinter hier hing der Bergsee, in dessen Spiegel die Flammen des Feuers zum Signal wurden. Links von ihr waren Bäume zu erkennen, deren dunkle Kronen wie fette Finger wirkten, die den Himmel bedrohten. Vor ihr waren die beiden Männer – oder auch mehr, die sie nicht sehen konnte. Rechts sah sie ein Gebäude stehen, winzig genug, um aus der Entfernung von der Festung nicht gesehen zu werden, gut versteckt, teilweise von Gras überwuchert.
Sie wollte zuerst in Richtung der Bäume kriechen, aber als sich weitere Stiefel näherten, gefolgt vom Klang vom Metall einer Rüstung, entschied sie sich für das Gebäude als Ziel, die Hütte.

Sie lehnte sich an das kühle Holz. Ihr Rücken verkrampfte sich. Hinter der Wand wirkten die Stimmen der Leute im Inneren wie die Echos vergangener Tage. Eine davon war die der Hofdame. Oder der Zofe, je nachdem. Hayes schlich weiter, bis sie eine Stelle erreichte, in der jemand ein Loch in die Wand gebohrt hatte – oder sie war einfach alt. Die Wand. Nicht Hayes. Wie alt Hayes wirklich war, wusste sie selbst nicht. Aber sie fühlte sich jung genug, um durch das Loch zu schauen. Und sie sah Marie. Die Marie, die nicht auf der Liege lag, sondern ihre Zwillingsschwester. Ihre magische Zwillingsschwester, noch immer gekleidet in ihrer guten Kleidung als Hofdame, wenngleich schon etwas beschmutzt. Vermutlich lag das an der Umgebung. Staub hing an den Kanten im Inneren der Hütte, die von außen viel kleiner wirkte. Aber das machte die Nacht.
»Also … also, also«, meinte der Mann, der vor ihr stand und sich die Augen rieb.
»Also, nichts also. Bitte, ich muss sie warnen.«
»Vor dieser Hayes? Komm schon, Marie. Jetzt, in der Nacht? Der Pfad ist schon bei Tag tückisch, aber warum kommst du auch zur Dämmerung heruntergerast, als wäre der Fuzan hinter dir her.« Der Mann seufzte lautstark, ließ sich auf einen Hocker fallen und griff nach dem Krug, der neben beiden auf dem Tisch stand. Er goss sich selbst und Marie etwas in die tönernen Becher.

Die Nacht war verklungen, noch bevor irgendein Hahn gekräht hatte und gleichzeitig war es noch stockfinstere Nacht. Hayes hätte zuschlagen können, konnte es noch immer. Was sie davon abhielt? Die Notwendigkeit, herauszufinden, wohin die Prinzessin verschwunden war. Keiner der Männer am Lagerfeuer hatte sich mehr als ein paar Schritte von diesem entfernt. Sie schliefen. Einer hielt Wache. Der Mann mit den stählernen Stiefeln blickte hin und wieder durch sein Fernrohr, blieb aber sonst ein Schatten vor den auflodernden Flammen. Mit der Zeit hatte Hayes, die die Stunden damit verbracht hatte, nicht einzuschlafen, auch die Maschine sehen können, die Mechanismen, die immer wieder Holz herantrieben aus einer Quelle, die wenigstens einige Meilen entfernt war. Und es war kein normales Holz. Es wirkte anders, leuchtete und die Flammen schossen in die Höhe und trugen Gesichter in sich. Auf der anderen Seite konnte dies auch an Hayes Müdigkeit liegen. Traumgebilde wirken oft so real wie andere Dinge, wirklich genug, um von einem Geist akzeptiert zu werden.

Die Tür öffnete sich. Hayes schlug die Augen auf. Die Dämmerung war bereits deutlich heller als vorher. Schritte näherten sich. Hayes blickte durch das Loch in der Wand. Der Mann mit den eisernen Stiefeln stand vor der Liege, auf der Marie geschlafen hatte. Er presste seine Hand auf ihre Schulter. Sie schreckte auf, schwieg aber, als sie sein Gesicht sah. Seine Worte schienen unhörbar zu sein, aber sie waren augenscheinlich wichtig genug, dass sie aufstand, ihre Schuhe anzog und ihm auf dem Weg nach draußen folgte.

»Sie ist in der Höhle«, sagte der Mann und Marie nickte nachdenklich. »Es ist besser, ich komme mir. Die Schluchten sind gefährlich und die Männer des Königs überall, wo er nicht ist.«
Sie nickte wieder, folgte ihm. Hayes kroch ihnen nach, fand eine Ecke, aus der sie unerkannt die Gegend einsehen konnte. Vier Pferde grasten, mehr oder weniger zufrieden, an den Grashalmen, die hier oben einsam dahinwuchsen. Die Blumen vor dem See wirkten unberührt, aber sie trugen eine spezifische Qualität in sich, die sie unangreifbar zu machen schienen, als wären sie Teil einer Magie ohne Namen.

Die beiden stiegen auf ein Pferd und ritten davon. Keiner der Männer am Lagerfeuer bewegte sich. Hayes musste sich entscheiden. Und sie entschied sich schnell. Sie stand auf, glitt an der Wand entlang, an der Tür vorbei, wollte die Wiese überqueren, als sich die Tür hinter ihr öffnete. Noch bevor der Mann reagieren konnte, wirbelte sie herum. Ihre Faust traf ihn, direkt unter dem Kinn. In seinem Gesicht konnte sie erkennen, wie überrascht er war. An den Schreien der Männer hinter der Tür, die von zurückprallenden Mann gegen die Wand geschlagen wurde, konnte sie etwas anderes erkennen. Wut. Zorn. Panik. Aber zum größten Teil Wut.

Hayes packte den Mann beim Bart, zerrte ihn an sich heran, schlug noch einmal zu. Ihr Bein schoss nach vorn, traf ihn direkt auf den von einem hölzernen Brustharnisch geschützten Oberkörper. Er taumelte davon, streckte seine Arme aus, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, krachte dabei in die beiden anderen Männer, die ihn in einer Reflexbewegung festhielten. Hayes wartete nicht so lange, sondern rannte, schob einen Fuß in die Steigbügel eines Pferdes, zerrte ihren Langdolch aus der Scheide und schlug zu, einmal, zweimal. Dann gab sie dem Pferd die Sporen, während sie das Zaumzeug des zweiten Tieres gepackt hielt. Beide Pferde waren willens, ihren Befehlen zu folgen. Sie schossen davon, bis Hayes das zweite Pferd losließ. Es blieb dennoch neben ihr. Augenscheinlich waren die beiden Pferde verwandt oder zumindest verschwägert. Wütende Rufe rollten durch die Landschaft hinter ihr, die alsbald verschwunden war.

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