Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 6

Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 6

Der Atem der jungen Frau war so leise, dass Hayes einen Spiegel nutzen musste, um überhaupt festzustellen, dass sie noch lebte. Ja. Ihr Körper lag auf dem Bett, umgeben von Kerzen in verschiedenen Farben und mehreren Stufen von Gestank, die wohl die möglichen Krankheiten hatten abhalten sollen, in die Freiheit zu fliehen. Doch sie war nicht krank, zumindest nicht offenkundig. Sie war schon etwas älter, hatte wohl ihr Leben mit dem Mädchen verbracht, hatte ihre ganze Existenz der Prinzessin gewidmet, doch was war der Dank gewesen? Geweckt werden mit Stichen, Feuer und Wasser – Hayes konnte die Reste der Spuren sehen, die langsam verheilten. Deshalb mochte sie Könige nicht. Die waren so logisch in ihrer Verachtung für menschliches Leben, dass es einem Schmerzen zufügen konnte.

Die Baracke war finster genug, dass die Schatten der Kerzen lustige Bilder an die Wände warfen, doch Hayes hatte keine Zeit, sich mit derlei Dingen zu beschäftigen. Sie zog eine Kerze heran, ließ das Licht über den Körper der Frau wandern, suchte nach Spuren von Gift, die sich auf der Haut abgelegt hatten, doch da war kaum etwas zu sehen. Hinter den geschlossenen Augenlidern starrten tote Augen in die Ewigkeit, reagierten nicht, als die Flammen die Pupillen erschreckten. Nein. Hatte sich … aber das war eher selten und wenn, dann magisch … hatte sich eine fremde Kraft ihrer Gedanken bemächtigt? Auch hier … aber was war das?
Hayes schob den Kragen der Frau zurück. Man hatte sie augenscheinlich nicht wirklich untersucht, sondern eine Entscheidung getroffen und sie hier zum Sterben hingelegt. Anders konnte sie sich nicht erklären, was an dem winzigen Faden, der um den Hals der Frau gelegt war, hing. Ja, es klang vernünftig. Sie nahm die Hände der Frau, betrachtete sie, nickte. »Ich … glaube …«
Sie stand auf, öffnete die Tür, blickte nach draußen. Eine Handvoll Soldaten wartete auf Befehle, die nie erfolgen würden. »Holt die Hofdame Isabena hierher! Lasst sie nicht allein!«
Sie drehte sich wieder um und stampfte in das Zimmer zurück, in dem Marie lag, die Zofe, die Zofe mit dem Anhänger um ihren Hals. Hayes musste nicht lang warten, bis ein namenloser Soldat die Tür aufriss und ihr mitteilte, dass Isabena verschwunden sei und sie wäre auch nicht im Zimmer der Prinzessin. Hinter ihm erschien das Gesicht seiner Majestät, verärgert und gleichzeitig panisch.
»Was habt Ihr gefunden, Hayes?«, fragte er, schob sich an dem Soldaten vorbei, der zurückwich und dankbar verschwand. »Also?«

»Also«, antwortete Hayes, zog die Kette vom Hals der Frau und warf sie auf den Boden, dann trat sie zu. Die grünen Steine knirschten und schrien. Hayes zog ihren Fuß zurück. Qualm stieg auf, ebenso grün wie die Steine gewesen waren. Eine Schatten kroch über das Gesicht der Magd, verformte es, löste die fremden Muskeln und die falsche Haut, die zu Boden krochen und nach Augenblicken auflösten.
»Bei allen Göttern, Isabena.«
Hayes drehte sich zum König um. Sein Gesicht war bleich genug, um die Finsternis zu beleuchten. Sie nickte. »Ja. Es ist Isabena.«
»Aber die … Isabena …«
»Ist nicht echt. Ich glaube, sie ist die echte Marie.«
»Aber wie?«, fragte der König, als er versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen.
»Magie.«
»Aber wie …«
»Die Hände, Eure Majestät. Eine Zofe hat nie so schöne Hände wie eine Hofdame.«
Der König nickte. »Und … und nun?«
»Nun werde ich die Prinzessin weitersuchen.«

Sie marschierte am König vorbei, durchwanderte den Hof, ging in das Gebäude und stampfte die Treppe zu den Gemächern der Prinzessin hinauf. Sie schloss die Tür hinter sich, setzte sich auf einen Stuhl und starrte ins Leere. Irgendwo in der Ferne hörte sie Seine Majestät brüllen, metallene Stiefel über Stein marschieren, doch diese Geräusche verebbten, wurden zu Echos in dieser steinernen Einöde. Die Festung selbst lag an einem seltsamen Ort. Von hier oben konnte man kaum seine Ländereien überwachen. Auch war die Menge an Soldaten begrenzt, die man hier oben stationieren konnte. Und doch hatte der König hier seinen Wohnsitz und den seiner Tochter auch, als müsse er sie mehr als nur beschützen. War sie wirklich so in Gefahr? Hayes glaubte es, wenn sie sich umschaute. Die Gemächer der jungen Frau hatten mit der Zeit den Eindruck eines goldenen Käfigs nicht verloren. Die beiden Fenster konnte man weder überwinden noch einen Sturz aus dieser Höhe überleben. Und doch waren Amelia und Isabena verschwunden, zwei Frauen, die die Räume kannten, in denen sie täglich viele Stunden miteinander verbringen mussten. Sie stand auf und wanderte durch den Raum, betrachtete noch einmal die Wände, die Tür, die Decke und den Boden, doch nichts zeigte sich, absolut gar nichts.
Und vielleicht war dieses Gar-Nichts die Lücke, in der sich die Wahrheit verfangen würde. Ja. Hayes holte eine Handvoll Münzen aus ihrer Tasche, legte sie in ihre linke Hand. Sie balancierte die Hand über die Armlehne, erlaubte dann ihrem Verstand, zurückzutreten, einen Platz am Ende ihres Geistes finden, dort, wo Wirklichkeit und Lüge zu einem wurden. Sie atmete einmal, zweimal, wartete darauf, dass sich alles in ihrem Inneren beruhigte, ein drittes Mal. Sie hielt die Luft an, starrte ins Nichts, hörte auf, das Nichts zu sehen und ließ zu, dass es klickte.

Es klickte. Hayes öffnete die Augen. Es war finster im Raum. Die Nacht hatte gesiegt, hatte das Licht verschlungen, das irgendwann, in wenigen Stunden vielleicht, wieder in die Welt hinausgespuckt werden würde. Sie ging in die Knie, suchte den Münzen zusammen, steckte sie wieder in ihre Tasche, stand auf, ging zum Fenster. Es war kalt. Das Fenster stand offen, nur eine fingerbreit, doch der Wind in dieser Höhe brachte Kälte mit sich. In der Ferne glitzerte etwas, ein winziger Punkt in dieser endlos wirkenden Nacht. Hayes öffnete das Fenster und blickte in die Finsternis. Zwei der drei Monde hingen wie Augen über Kinsul, betrachteten die schlafende Welt. Der dritte Mond, unsichtbar und selten, dass viele glaubten, er sei nur teilweise wirklich, war wie üblich nicht zu sehen. Hayes betrachtete die Punkte in der Ferne weiter. War das ein See, in dem sich die Monde spiegelten? In dieser Höhe war das eher weniger möglich, aber sie konnte es nicht ausschließen. Was allerdings auffiel: Das Glitzern folgte gewissen Regeln, als würde der See Wellen werfen, die nicht natürlich waren, als würde jemand Steine hineinwerfen, jedesmal, wenn Hayes bis 10 gezählt hatte, 6 Steine in der Minute. 6 große Steine in der Minute. Jede Minute.
Nichts in der Natur konnte so genau sein. Außer die Sterne vielleicht oder die Monde. Aber wie war Isabena entkommen? Marie, nicht Isabena. Hayes rollte mit den Augen. Ein weiteres Glitzern hing in der Luft, direkt über dem Fenster. Sie öffnete es, blickte in den Himmel hinaus. Ihre Hände fühlte etwas, ein Seil, ein Seil aus Metall, sehr dünn und dennoch – sie zog daran – sehr stark und straff. Es summte wie die Saite einer Laute. Und es führte in die selbe Richtung, aus der das regelmäßige Glitzern heransauste. Ja. Sausen. Das Seil würde nicht im Nichts enden und so war Marie entkommen und Amelia auch – falls sie es gewollt hatte. Vielleicht hatte Marie sie betäubt, hatte sie an einen Flaschenzug gehängt und sie in die Tiefe schießen lassen, wohlwissend, dass jemand anderes an dessen Ende darauf wartete. Sicher war, dass Isabena betäubt und von Marie in Marie verwandelt worden war, aus welchem Grund auch immer. Es gab eine Verschwörung in dieser Festung. Hayes war sich allerdings nicht sicher, ob es sich wirklich nur um eine oder doch um mehrere handelte, aber das war jetzt nicht wichtig.

Hayes wanderte durch den Raum, nahm eine Kerze an sich, entzündete sie durch eines der Schwefelhölzer, die in einem Schrank lagen, packte die winzigen Stäbchen ein – man wusste nie, wann man sie brauchte – und begann, das Seil zu beleuchten. Es waren nicht ein, sondern zwei Seile, doch das zweite hing nur einen Hauch über dem anderen. Natürlich. Über dem dicken Seil schwebte ein dünneres, an dessen Ende eine Art Gewicht hing, das in einer Halterung hing. Hayes lächelte. Seveno war wirklich sehr intelligent gewesen, deutlich klüger als Satic und seine Leute. Sie hatten das Seil vielleicht gesehen, vielleicht aber auch nicht. Magie hat die Angewohnheit, sich vor den Augen der viel zu überzeugten Sieger zu verstecken und einem geschenkten Gaul schaut man nicht auf die Zähne. Im Moment war die auch die Magie, die der frühere Herzog in den Tiefen der Festung versteckt hatte, auch unwichtig. Hayes zerrte das Gewicht aus der Haltung. Die Schwerkraft packte es und zog es in die Tiefe. Winzige Rollen rotierten kaum hörbar in ihren Befestigungen. Nach weniger als einer Minute schoss ein Flaschenzug heran, wie der Geist einer verlorenen Schlacht. Es war Zeit, der Prinzessin und der Zofe zu folgen.

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