Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 5
Die Wände, die um die Treppenstufen herum in die Höhe wanderten, schienen so glatt zu sein, dass sich Hayes fast darinnen spiegeln konnte. Ihre Augen blieben an den winzigen Fenstern hängen, Schießscharten für Bogenschützen, die jedoch durch die Enge des Aufstiegs Schwierigkeiten gehabt hätten, den Bogen wirklich zu spannen. Außerdem zeigten die Fenster in jede mögliche Richtung. Hayes blickte immer wieder hinaus in die Dämmerung, die nun zur Nacht wurde, doch hier gab es kaum einen echten Unterschied, denn die nahen Bergrücken ließen kaum Licht durch. Also doch keine Schießscharten, eher ästhetische Verzierungen, die wirken sollten, als seien sie wichtig. Alles hier schien wichtig zu sein.
Sie war nur wenige dutzend Schritte vom Thronsaal entfernt gewesen, als ihr eine Frau begegnet war, eine Magd, die jedoch keine Magd war, sondern die Hofdame, die die Prinzessin hatte wecken wollen. Sie schien aufgeregt zu sein. Ihre Augen glitzerten rötlich im Flackern der Ölflammen in den Laternen und ihre Mundwinkel hielten gerade noch dem Blick der Leute stand, doch den Augen Hayes entging nicht, dass dies nur zum Teil stimmte. Die Frau war nicht nur verbittert, sondern völlig panisch. Ihre Hände zitterten und ihre Finger spielten mit den einsamen Locken, die sich aus ihrem Kopfputz in die Freiheit verirrt hatten. Sie war hübsch, doch nicht schön. Doch das tat nichts zur Sache. Ein Halsband mit grünen Steinen begenzte ihren weißen Hals, sonst war ihre Kleidung eher düster, als würde sie Trauer tragen. Hayes hatte keinen Bedarf an Liebschaften, zumindest jetzt nicht. Sie hatte lange niemanden mehr getroffen, der ihre Welt zum Beben brachte. Vermutlich war sie deshalb immer bereit, sich in ein sinnloses Abenteuer zu stürzen, auch wenn sie wusste, dass am Ende sie es war, die die anderen retten würde, die Welt retten würde, oder zumindest irgend etwas kleineres.
»Frau … Hayes?«, fragte die Frau, die nun vor ihr ging, ihr den Weg ins Gemach von Prinzessin Amalia zeigte. Ihre Schuhe klickten von Stufe zu Stufe wie die Tropfen einer Wasseruhr.
»Ich komme«, meinte Hayes und folgte der schattenhaften Bewegung, die im Dunkel des Turms zu verschwimmen drohte. Ja, Prinzessin Amalia lebte in einem der Türme, genauer gesagt in dem Turm, dessen Dach eine kupferfarbene Hülle trug, die wohl das Böse abhalten sollte. Das hatte nie funktioniert bisher – selbst wenn die Prinzessin Haare hätte, die mehrere dutzend Ellen lang wären … Hayes schüttelte den Gedanken ab. Das waren alles Sagen einer fremden Welt und jetzt war sie nicht bereit, sich in ihre Kindheit zurückzuversetzen. Als die Schritte der Hofdame stoppten, blickte Hayes auf. Hinter dem schimmernden Kleid, das den zarten Körper der Frau einhüllte, war eine Tür erschienen. Goldene Linien krochen durch das versteinert wirkende Holz wie der Eingang in eine fremde Welt. Die Hofdame keuchte etwas und drehte sich um. Ihre unsichtbaren Augen waren auf Hayes gerichtet, ihre Zähne knirschten, doch so, wie man es von einer Adligen erwartete, vollkommen kontrolliert.
»Hier fand ich sie. Also ich meine … hier ist das Zimmer.«
Sie drehte sich wieder um, zerrte einen Schlüssel aus dem Beutel an ihrer Seite und öffnete das Tor zu einer fremden Welt.
Hayes war noch nie von soviel Prunk umgeben worden. Das Zimmer wirkte, als wäre es von einem Wahnsinnigen eingerichtet worden, dem man freie Bahn gelassen hatte. Gegenüber der Tür stand ein Bett, eines dieser Himmelbetten, deren Himmel aus Samt zu bestehen schien, düster und weich.
»Einen Moment bitte«, meinte ihre Begleiterin, wanderte durch das Zimmer. Es klickte einige Male, dann wurde der Raum von verschiedenen Lichtern beleuchtet, keinen Kerzen, sondern Kristallen, die in verschiedenen Farben funkelten, den Raum in einen Ballsaal verwandelten.
»Das war die liebste Umgebung der Prinzessin. Wir können die Farben auch ändern, wenn Sie es wünschen, Frau Hayes.«
»Noch nicht …«, murmelte Hayes, »noch nicht.« Ihre Sinne fühlten sich an, als würden sie ertrinken. Ihre Augen hatten noch nie, noch nie solche Pracht gesehen. Selbst in ihren Träumen waren die Welten eher grau und dürftig gewesen, doch hier … war es zu viel. Dennoch musste sie durchhalten. Immerhin konnte sie sehen, was die Prinzessin sah, was die Zofe …
»Wo hat die Zofe geschlafen?«, fragte sie.
»Hier, im Nebenraum.« Die Hofdame öffnete eine Tür, die aus Stoff, nein aus tausenden Perlen bestand, die an Fäden hingen und die bei der geringsten Bewegung leise klickten. Hayes betrat den Raum, doch dort schien alles gegenteilig zu sein. Eine einsame Liege stand in der Ecke, ein kleiner Tisch stand daneben. Ein Klumpen aus geschmolzenem Wachs hatte sich am unteren Ende des Kerzenständers gebildet. Hayes trat näher heran, betrachtete es. »Die Kerze hat die ganze Nacht gebrannt und dann ist sie erloschen, weil der Docht zu Ende war«, murmelte sie. Sie blickte sich weiter um, doch auch in der Schublade des Tischs fand sie nichts, absolut nichts. »Hm«, murmelte sie, immer und immer wieder.
»Und hier habt ihr die Zofe gefunden?«, fragte sie.
Die Hofdame schüttelte den Kopf. »Nein. Sie lag … also, ich meinte …« Ihre Gedanken gerieten in Wallung. Ihr Herz schien gleichzeitig stillzustehen und zu rasen.
Hayes packte sie an ihrem Handgelenk, zerrte sie aus dem Zimmer, packte sie auf einem der Stühle der Prinzessin und blickte sich um. Sie lächelte, öffnete eine angelehnte Schranktür, holte eine Flasche heraus, dazu ein Glas, zerrte den Korken heraus, schüttete eine Handbreit der scharf riechenden Flüssigkeit in das Glas und gab es der jungen Frau. »Trinken Sie.«
»Ich …«
»Trinken Sie. Es ist eine Anweisung.«
Die Frau folgte dem Befehl. Sie riss ihre Augen auf. Ihr Gesicht verformte sich für einige Augenblicke, dann hustete sie.
Als das Glas leer war, hob sie ihren Blick, starrte Hayes an, die sich auf das Bett der Prinzessin gesetzt hatte.
Hayes starrte zurück und versuchte, zu lächeln. »Geht es wieder?«
»Das … war Branntwein«, murmelte ihr Gegenüber.
»Aus Äuatien. Soll gut sein, habe ich gehört.«
»Ich … also, mir ist nicht erlaubt … die Prinzessin?«
»Die Prinzessin trinkt hier und da ein wenig, vermute ich mal. Diese Berufung würde auch mich zum Trinken bringen.«
»Aber …«, die Hofdame blickte sich um, schwieg. Ihr Verstummen wurde vom Schweigen, das den Raum einhüllte, dankbar aufgenommen.
»Wie ist dein Name, Kind?«, fragte Hayes.
Ein kurzer Schrei, unterdrückt und überrascht, blieb in den Ecken des Zimmers hängen. Die Hofdame hatte das Glas fallen lassen. Ein einzelner Tropfen hing zwischen den Fasern des dicken Teppichs. »Ich … bin Isa. Isabena von …«
»Isa reicht. Danke. Ich bin Hayes.«
Isa nickte heftig.
»Erzählt mir, wie ihr die Zofe gefunden habt – und die Prinzessin nicht.«
»Ja, also«, versuchte sich die Hofdame Isabena zu erinnern. »Es … es ist meine Pflicht, mich darum zu kümmern, dass die Prinzessin an den Mahlen des Königs teilnimmt. Das Frühstück ist eine Stunde nach Sonnenaufgang, dann, wenn die Sonne am höchsten steht, das Mittagessen und am Abend dann das Mahl selbst, das den Großteil ausmacht. Seine Majestät besteht auf diese Regeln. Er verbringt viel Zeit mit Aufgaben, mit Regieren selbst – und trotz seiner Räte und Generäle ist er, nun, wie sage ich es, einsam. Seine Frau ist verstorben und die Prinzessin ist die Einzige, die ihm noch Familie ist.
Als die Prinzessin nicht zum Frühstück kam, machte Seine Majestät sich natürlich sorgen. Ich gestehe, ich … hätte vorher reagieren müssen. Ich eilte die Treppen hinauf, klopfte an die Tür. Niemand antwortete, was überaus seltsam war, denn wenigstens die Zofe ist da, wenn nicht sogar dabei, Amalia die nötigen …«
»Schon gut …«
»Ja, natürlich. Ich klopfte. Niemand antwortete. Ich öffnete die Tür. Es roch nach Rauch, nach … Feuer. Ich rannte zum Fenster, riss es auf, drehte mich um und da war nichts, kein Rauch, keine Flammen, keine Hitze. Das Zimmer war so leer, wie es jetzt ist. Und dort, wo die Prinzessin eigentlich hätte sitzen sollen, an ihrem Schminktisch, über dem Hocker lag die Zofe. Ich dachte zuerst, dass sie tot wäre und dass jemand … also … Sie atmete noch, aber ich konnte sie nicht wecken. Sie schlief. Ich suche in jedem Zimmer, unter und über dem Bett nach der Prinzessin, doch sie war nicht da. Ich schaute aus dem Fenster, doch da war auch nichts. Ich rannte die Treppe hinunter und sagte Seiner Majestät, dass die Prinzessin verschwunden sei. Der König wurde sehr böse und schrie und seine Männer rannten die Treppe hinauf, doch auch sie kamen zurück, ohne Prinzessin. Sie trugen die Zofe vor den König. Man versuchte, sie zu wecken, aber auch Stiche halfen nichts. Wasser half nichts. Feuer … half nicht. Selbst der Hofzauberer …«
Sie brach ab. Hayes war wieder durch den Raum gewandert und hatte sich das Fenster angeschaut, während Isabena gesprochen hatte.
»Da war also Rauch, aber kein Feuer.«
»Genau, ja.«
»Wo ist die Zofe nun?«
»Sie ist im Krankenlager, neben den Baracken. Sie wird bewacht. Vielleicht ist sie einem Zauber erlegen … oder sie ist krank und niemand will krank werden.«
»Und das Zimmer wurde durchsucht.«
»Ja. Der König hat seine besten Männer das Zimmer durchsuchen lassen. Hier gibt es keine Schalter, keine versteckten Türen, keine magischen Spiegel, durch die man hindurchtreten kann. Es sind keine Löcher in den Wänden, keine Falltür, keine …«
»Ich verstehe. Ich verstehe. Ich werde in die Baracke gehen. Ihr bleibt hier, ich werde euch weiter befragen müssen, vielleicht jedenfalls. Ich komme wieder.«
»Natürlich«, meinte die junge Frau.
Hayes stampfte die Treppe hinunter. Dass Könige ihre Töchter immer in hohe Türme einsperrten, um sie vor Männern zu schützen, das war ein alter und dummer Brauch, gerade weil die Tür nicht wirklich verschlossen war und die Prinzessin während des Tages sicher nicht hier oben hatte ausharren müssen. Hayes hatte kaum Bücher gesehen, vielleicht ein Spiel oder derer zwei. Was also sollte sie den ganzen Tag machen? Eine Vogel in einem goldenen Käfig ist noch immer gefangen.
Durch die Schießscharten hatte die junge Frau auch nicht entkommen können und, so fühlte Hayes, fand sie auch keinerlei bewegliche Ziegel in den Wänden, die irgendeinen Mechanismus hätten auslösen können.