Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 2

Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 2

Die Schatten zwischen den Bäumen verschwanden, wurden von den Nächten zwischen den Bergen ersetzt, die sich wie Klingen in den blauen Himmel schoben, das Licht zerrissen. Und Bäume? Nein, dort lebten keine großgewachsenen Wesen aus Holz mehr, sondern nur noch hexenhafte Sträucher, zusammengewachsene Erinnerungen an die Zeiten, bevor die Welt die Berge und Klüfte erschaffen hatten, Sträucher, die sich mit ihren verdorrten Fingern in die Kanten und Risse im endlosen Gestein festhielten. Ferne Ziegen quälten die Ohren mit unheilig scheinenden Echos.
Hayes kannte all dies. Sie träumte von jenen Szenen, die jedem Schamanen in den Tiefen des Ostlands den Terror durch die Adern geschossen hätte. Ihr Leben war eine Ansammlung von Ereignissen, die ihren Zweifel an die Menschheit oder Tierwelt oder allgemein an die Wirklichkeit immer wieder auffrischten. Doch von Siep-Zeilip schien es nicht gewohnt zu sein. Tatsächlich wirkte er wie das Kind einer Stadt, das zum ersten Mal die wahre Welt sehen muss, fernab der Schlachtfelder, deren Position hier und da einen Hügel, vielleicht auch einen Berg und einen Wald beinhalteten, wie ein Spiel für Bauern und Könige, das man im Süden spielte, in den Ländern jenseits der großen Wasser. Ja, alles war ein Spiel. Doch der Kommandant, der neben Hayes ritt, war sich nicht sicher, ob er wirklich hier war oder doch in einer Mission, die seinen Verstand in den Abgrund treiben konnte.

Deshalb versuchte er, die grauenhaften Echos mit seiner eigenen Stimme zu verdecken, was zu noch mehr Echos führte, zu noch mehr Geräuschen, die sich mit dem Kreischen des Geiers vermischten, der über ihnen kreiste.
»Seine Majestät wird sicherlich überrascht sein, eine Frau zu sehen. Natürlich kennt er Ihren Namen und manch einer hat vergessen, welchen Geschlechtes ihr seid. Es ist auffällig, dass Ihr Waffen tragt.«
»Ich erledige Aufträge. Ich bin weder Hexe noch Zauberin. Mein Charme besteht darin, schneller zu sein als mein Gegner.«
»Natürlich«, murmelte er.
Hayes hatte sich diese Sätze ausgedacht, weil sie schon öfter gefragt wurde, was sie dazu qualifizierte, solcherlei Aufgaben zu erledigen – doch seit ihres Kampfes gegen den Kristall in der Festung in Uruk war sie sich nicht mehr so sicher über Magie. Sicher, sie hatte den Zauber genutzt, den man ihr gegeben hatte und hatte damit Erfolg gehabt, aber das war der Sprung in eine neue Welt. Andere hätten ihr widersprochen.
»Wie ist die Prinzessin? Was könnt Ihr mir über sie sagen?«, fragte sie, um das von Siep-Zeilip auferlegte Schweigen zu brechen. Außerdem brauchte sie Informationen – und je mehr sie hatte, desto klarer waren die wahren Werte, die sie ihrem Ziel näherbringen konnte.
»Prinzessin Amalia ist 17 Jahre alt. Sie ist sehr beliebt beim Volk. Sie bekämpft Hunger und Krankheit.«
»Das klingt auswendig gelernt, Herr Kommandant«, meinte Hayes und schaute ihn an. Seine Stirn glänzte in der Dämmerung zwischen den Bergen.
»Was genau wollen Sie denn wissen?«
»Was sind ihre Aufgaben an Hof? Was tut sie in ihrer Freizeit? Hat sie ihren künftigen Gemahl schon kennengelernt? Wie beliebt ist sie am Hof?«
»Äh«, meinte ihr Gegenüber und kratzte sich mit seinem Handschuh über die Stirn. »Also …«
»Ich verstehe. Der Kommandant weiß nichts über jene, die er beschützt.«
»Doch, aber ich bin eher für Seine Majestät verantwortlich. Wir haben genug Männer, um dies zu bewerkstelligen.«
»Aber nicht genug, um eine Prinzessin von 17 Jahren davon abzuhalten, zu fliehen.«
»Fliehen? Nein, sie wurde entführt. Ihre Gemächer wurden geplündert. Man fand Blut an den Fenstern. Ihre besten Kleider fehlen ebenso. Gold und Geschmeide wurden zurückgelassen.«
»Und ihr Tagebuch?«
»Tagebuch?«
»Wer als Prinzessin mit 17 Jahren kein Tagebuch führt, … nun, sagen wir, es ist mehr als nur selten.«
»Ihre Prinzessin hat kaum Zeit. Ihre Aufgaben sind vielfältig.«
»Da bin ich aber dankbar, dass ich keine Prinzessin bin.«
Von Siep-Zeilip lachte, als hätte es ihm in der Kehle gesteckt, seit einer Ewigkeit schon. Die Echos seiner Stimme landeten in den Vogelnestern über den Köpfen der beiden Reiter. Vögel blickten verwundert in die Tiefe, schossen davon und rasten hinauf in die Freiheit des blauen Himmels, der nun deutlich trüber schien als zuvor. Ein langer Tag, der so schön begonnen hatte, kam Ende.
»Bei Aracus, ich auch nicht.« Seine Stimme machte ihn nun jünger, unwirklich jung für diesen alternden Körper. Vielleicht war er wirklich nicht so alt, wie er aussah.
»Und Sie? Sie können mir doch über sich erzählen. Sie dienen dem König bereits seit langem?«
»Seit ich ein Knabe war, ja. Meine Eltern waren arme Bauern, hoch verschuldet und ich war einer der vielen Esser an ihrem Tisch. Und als ich hörte, dass meine Mutter erneut ein Kind in diese Welt setzen würde, entschloss ich mich, die Familie zu verlassen und echtes Geld zu verdienen. Das Feld, Frau Hayes, ist eine endlose Reihe von Ähren oder von Wurzeln. Die Arbeit ist ewig und die Winter sind voller Schrecken und Hunger. Ich war damals 12 Jahre alt und ich lief davon. Und dann traf ich Satic, damals noch Herzog. Er war ein Herr der Waffen und ich konnte damals schon sehen, wie gut er war. Seine Soldaten waren versorgt und sauber und dankbar. Er hatte Erbarmen mit mir und ich wurde sein Kundschafter, später der Überbringer von Botschaften. In den Kämpfen war er immer einer, der sich vor seine Männer stellte, als erster den Feind angriff – und ich war der zweite. Ja, ich habe viel gesehen, Frau Hayes. Ich habe den Terror gesehen, die unheiligen Kreaturen, die einige Stämme erschaffen, Fleisch, durchzogen von grünem Licht. Doch Aracus war stark und mein Herr war sein Diener und so … gewannen wir zusammen Äuatien. Seine Feinde sagen, er sei grausam, ich sage, dass er rational ist, klug ist. Das Haupt eines Drachen muss fallen, bevor der Schatz eingefordert werden darf.
Er heiratete vor 20 Jahren, als er noch Herzog war, die Tochter des letzten Königs Palo des Siebenden, des Herrn dieser Lande. Nachdem dieser vor 7 Jahren starb, brachen die Länder ihre Verträge. Jeder wollte König sein. Doch Seine Majestät, König Satic, schuf Frieden.
Und nun ist seine Tochter verschwunden. Sicher war es einer der vergessenen Kinder der früheren Herzöge.«
»Nicht die Herzöge selbst?«
Er blickte sie an. In seinen Augen erkannte sie das Eis seiner Gedanken. »Ich verstehe«, meinte sie.

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