Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 14.2

Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 14.2

»Soveno«, zischte der Mann, als würde er den Namen nicht nur verabscheuen, als habe er ihn vergessen.

»Soveno«, meinte Hayes. Ihre Augen hingen über Bernhards Gesicht. Bewegte sich da etwas? War da ein Zucken, eine Erinnerung an die Wirklichkeit?

»Ich werde ihn töten lassen, wenn die ganze Sache vorbei ist. Vorbei!«

»Was soll vorbei sein?«, fragte Hayes.

Nun grinste der Mann. »Wenn die Zeit reif ist, dann wird meine Existenz unendlich sein!«

»Deshalb hälst du die Prinzessin gefangen, nicht wahr? Verheiratest sie an irgendeinen König in der Ferne und übernimmst dann dessen Körper, wenn dieser hier schwach ist. Schwach, ja. Ich sehe deine Schwäche, alter Mann. Ich sehe deine Angst vor dem Tod.«

»Der Tod«, heulte Soveno. »Der Tod ist nichts! Der Tod ist geflohen, vor mir geflohen!«

»Er ist geflohen wegen des Blutes, nicht wahr? Der rote Kristall, er lebt von Blut.«

»Woher weißt du das?«, fragte Soveno. »Woher …« Seine Stimme brach ab, als habe jemand die Verbindung zu seinem Hirn unterbrochen.

»Ich habe geraten«, antwortete Hayes. »Und wessen Blut ist es? Deines oder das der … Prinzessin.« Sie nickte, als sie Sovenos Reaktion bemerkte, das Zucken seiner dürren Lippen, die an die Rinde eines Baumes erinnerten, eines alten, eines verfallenen Baumes. »Der Kristall braucht Blut und es muss königlich sein, auserwählt, ja?«

»Nein … es …«, murmelte Soveno. »Es muss gut sein.«

»Gut, freundlich. Ja, so mag man das Blut, nicht wahr? Gut, freundlich«, wiederholte sie. »Deshalb ist die Prinzessin so schwach, so fern der Welt. Wie oft fütterst du den Kristall? Und was bringt er dir?«

»Was er mir bringt? Siehst du nicht, was ich hier habe, Weib!« Sovenos Stimme riss den Raum entzwei. Herausgerissene Blätter segelten durch die abgestandene Luft. Die Fenster klirrten. »Ich habe Macht!«

»Gekaufte Macht.«

»Die ich erweitern kann. Ich fühle, dass du gut bist, Weib. Du kannst den Kristall gerne nehmen. Nimm ihn in deine Hände. Öffne dein Herz.«

Sovenos Worte wirkten wie Seide, flossen in Hayes Ohr, berührten die Grenzen ihrer Seele. Ein Teil von ihr wollte das, was er wollte: Teil der Kraft sein, die dem Kristall innewohnte. Wie würde es dort sein? Warm? Schön? Weich? Ja, ein Bett wäre darin, eine Blumenwiese, Sonnenlicht von Schatten durchzogen. Bilder krochen durch ihren Kopf. Sie konnte die Blumen riechen, die wunderbare Sommerluft. Ihr Pferd, das neben ihr stand und Knospen von den Weiden fraß.

Schmerz durchzuckte sie, riss die Illusion entzwei. Soveno war nah an sie herangetreten, versuchte gerade, ihr den Dolch zu entreißen, presste den Kristall auf ihre Hand. Ihr Arm schoss nach vorn. Ihre Faust traf den Zauberer unter dem Auge. Er taumelte davon, rammte Bernhard. Von und Zu reagierte nicht. Sein Geist schien in der Hülle des Fleisches nicht zu existieren.

»Schnapp sie dir!«, befahl Soveno, schrie die Worte, bis er heiser wurde. »Töte sie mit der Klinge. Lass sie Stahl schmecken!«

Bernhard folgte dem Befehl. Er zog sein Schwert. Hayes war sich nicht sicher, wieso er nicht zauberte, wieso Soveno die innenwohnende Kraft des Mannes nicht nutzte. Vielleicht … nein, dazu hätte sie später Zeit, wenn sie überlebte.

Von und Zu war gut, verdammt gut. In jedem seiner folgenden Schläge, Hiebe, Finten erkannte Hayes die langjährige Erfahrung auf dem Schlachtfeld. Er ließ die Klinge kreisen, stoppte sie nicht in der Bewegung, sondern ließ sie ähnlich einem Adler in die Tiefe stürzen. Hayes hatte nur ihren Dolch, doch sie hatte gelernt, mit ihm umzugehen. Die Kraft, die Bernhard aufwendete, war schwierig zu parieren, deshalb musste sie abgeleitet werden. Immer und immer wieder tanzte Hayes zur Seite weg, nach hinten, nach vorn, um nicht direkt getroffen zu werden. Der Mann war stark und besser gerüstet. Sein Schwert war scharf und schwer. Hayes hoffte, dass er irgendwann erlahmen würde, doch auch nach Minuten des Gefechts wirkte er kaum schwächer als zuvor. Dennoch hingen salzige Tränen auf seiner Stirn, die langsam in die Tiefe krochen, seine Augen benetzten. Er wich zurück, wischte sie sich vom Gesicht. Hayes machte einen Ausfallschritt, bevor er seinen nächsten Stich ansetzen konnte und fand sich nur wenige Handbreit vor Soveno wieder. Ihr Ellenbogen zuckte. Der rote Kristall fiel zu Boden. Der Aufschlag hörte sich dumpf an, als läge dort dicker Teppich statt blanker Stein. Hayes hörte das Sausen der Klinge hinter ihrem Kopf und tauchte nach unten. Soveno zuckte zusammen, als das Metall ihn auf der Brust traf. Etwas splitterte in der Ferne, nur für den Bruchteil einer Sekunde.

Eine Stimme kroch aus der Ferne heran. Kemors Gesicht tauchte hinter dem Vorhang auf, neben ihm das Bild der Prinzessin, als wäre es Teil eines Gemäldes.

»Soveno«, brüllte er. Er ließ die Prinzessin los, die zu Boden fiel, als habe sie keine Kraft in ihren Beinen. Seine Hand schoss durch den Vorhang, versuchte, den Mann zu packen, dessen Gesicht in der Gegend herumstarrte, als hätte er alle Kontrolle verloren, alle Kontrolle, die er glaubte, zu haben. Doch noch war er nicht geschlagen, noch hatte er genug Kraft. Magie rollte durch seinen Körper. Er öffnete seinen Mund, doch statt Worten kroch etwas lebendiges aus ihm heraus, Rauch, Nebel, Blut, die Nacht selbst. Er ging in die Knie. Sein Mund öffnete sich weiter. Schmerzen zogen über sein Gesicht, während Muskeln und Gelenke zu reißen drohten. Die Finsternis, die nach oben schoss, hüllte innerhalb von Augenblicken die Decke des Raums ein. Blitze schossen durch die wallenden Wellen, hinter denen Kreaturen lauerten, die bereit waren, ihre Dimension zu verlassen, um sich an Kinsul und seinen Wesen gütlich zu tun. Hayes fühlte, wie Erinnerungen aufstiegen. Angst überkam sie, unkontrollierbar und alt, als habe sie sie schon einmal erlebt, auch wenn sie sich nicht daran erinnern konnte. Die Zwischenwelt im Spiegel musste Teil dieser fremden Wirklichkeit sein, eine Wirklichkeit, die sich vertraut anfühlte. Doch so sehr sie kämpfte, versuchte, ihre Glieder zu bewegen, ihren Dolch zu benutzen, sie konnte es nicht. Sie war eine Puppe, deren Schnüre durchgeschnitten worden waren, ein Mensch, dem das Schicksal in diesem Augenblick die völlige Freiheit ließ, als wäre sie außerhalb ihrer eigenen Geschichte gelandet! Sie wollte schreien, doch ihr Mund schien unendlich weit entfernt zu sein.

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