Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 14.1
Die Wände verschwammen, verwandelten sich in ein Meer aus Finsternis und Schmerzen. Grüne Flammen züngelten zwischen den Wellen entlang. Blitze krochen über die Decke, wanderten zwischen dahingleitenden Wolken hin und her. Hayes fühlte, wie der Boden schwankte, als wäre sie auf einem Boot in der Mitte eines Gewittersturms. Die Luft roch nach Magie, eine elektrische Kraft, die alles erfüllte, jede Faser ihres Körpers zum Zittern brachte. Selbst die Tiefen unter dem Weinberg hatten sich nicht so bösartig angefühlt. Ja, bösartig war das Wort. Diese Magie, diese Verzerrung der Wirklichkeit, war nicht neutral, war nicht so emotionsgeladen wie der Kult der Mönche, die Anbetung der vergessenen Gottheit, nein … Nein! Hayes fühlte die klare, die rationale Notwendigkeit des Bösen, die philosophische Auslegung der Kräfte, die nicht von dieser Welt waren. Länger als die Geschichten des Fuzan auf dieser Welt existierten, in Zeiten, die vergessen worden waren, hatte es Dinge gegeben, Entitäten, die sich dem verschrieben hatten, was Macht bedeutete, Macht durch Kontrolle. Und Soveno hatte das Ziel erreicht oder war zumindest nahe dem Punkt, in dem Magie selbst zum Abstraktum werden würde, zur Essenz der Kontrolle. Hier, inmitten dieser eigenen Welt, getrennt von Kinsul, getrennt von ihrer eigenen Welt, von ihrem eigenen Universum, war Soveno kein Mensch mehr, kein Magier mehr, sondern – Hayes fühlte, wie ihre Zähne knirschten – fast schon ein Gott.
Ein Gott, dessen Existenz dabei war, die Wirklichkeit mit ihr zu teilen. Hayes fühlte, tief in ihrem Herzen, dass er wusste, wer sein Reich betreten hatte. Doch es kümmerte ihn augenscheinlich nicht. Sonst wären andere Dinge geschehen, Kreaturen aus der Tiefe unter ihren Füßen aufgetaucht und hätten sie davongerissen. Hayes merkte, dass ihre Hand den Griff ihres Dolches zusammenpresste, sich an ihm festhielt, als wäre er der Anker in die echte Welt, trotz der Magie in seinem Inneren. Sie schloss ihre Augen, erlaubte ihrem Verstand, zurückzutreten. Bald schon wurden die Blitze schwächer; das Schwanken und die Töne, die der Raum ausstrahlte, verloren sich im Hintergrund. Ihre Stiefel fanden den kalten Stein auf dem Boden. Altbekannte Geräusche metallener Stiefel und dumpfer Rufe füllten ihre Ohren. Als sie die Augen öffnete, erwartete sie der Raum, so wie er wirklich aussah. Die verglasten Fenster an zwei Seiten des Zimmers erlaubten einem Hauch von Sonnenlicht den Eintritt in diese Welt. An den Wänden standen Tische, gefüllt mit verschiedenen Mörsern, gläsernen Kolben, aus denen fremde Rauchschwaden aufstiegen und sich an der Decke sammelten. Alte Bücher lagen übereinander. Sie wirkten hastig aufgerissen, als habe Soveno etwas Wichtiges gesucht, aber nicht gefunden. Dahingekritzelte Formeln summten auf Pergamenten. Zerknüllte Schriftrollen flüsterten Silben ihrer verlorenen Zaubersprüche, unhörbar für menschliche Ohren. Doch Hayes konnte sie entziffern. Sie schauderte. Das hier waren nicht die üblichen kleinen magischen Experimente – aber das war ihr schon klar gewesen. Die fremde Dimension, die sich vor die Wirklichkeit geschoben hatte, war stark genug, um Besucher zu Opfer zu machen, zu willenlosen Sklaven. War Bernhard so in den Klauen Sovenos gelandet? War sein Geist gefangen in dieser Zwischenwelt, in dieser Illusion?
Hayes schreckte auf. Sie war schon wieder dabei, in ihrem Inneren zu philosopieren, statt ihre Aufgaben zu erledigen, ihre Mission. Sie bedauerte, dass sie nicht mehr Zeit für solche Mediationen hatte, aber der Kristall, der in der Mitte des Raumes hing, hatte sich bisher versteckt und war nun aufgetaucht, als wäre ein Schleier von ihren Augen gezogen worden.
»Hayes!«, spuckte eine Stimme aus.
Hayes konnte die Angst schmecken, den ihr die Kreatur entgegenbrachte. Mit erzwungener Lässigkeit drehte sie ihren Kopf zur Seite, schaute dem Mann nicht ins Gesicht. Sie zuckte mit den Schultern und drehte sich wieder um. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass …
Der Plan ging auf. Sovenos Stimme wurde lauter: »Hayes!«
»Ja«, antwortete sie, reagierte aber weiterhin nicht.
»Dreh dich um, wenn ich mit dir rede, Weib!«
»Warum sollte ich einen kleinen Zauberer beachten?«, fragte Hayes. Sie schaute sich weiter um, als würde sie die Umgebung betrachten, aber ihr Körper straffte sich, ihre Muskeln summten vor Anspannung.
»Kleiner …« Soveno, der Mann, der ein ganzes Königreich an sich gerissen hatte, wirkte fassungslos. Seine Stimme knirschte.
»Zauberer. Illusionist. Taschenspieler. Der übliche Feigling«, murmelte Hayes, laut genug, damit der Mann sie nicht überhörte, leise genug, um arrogant zu wirken.
»Feigling …« Sovenos Stimme verstummte. Ein Schatten schoss an Hayes vorbei, ein schwarzer Ball aus Feuer und totem Licht. Er explodierte an der Wand. Splitter eines Regals wirbelten durch die Luft. Einzelne Schriftrollen kreischten, als die Flammen ihre Seelen fraßen. »Feigling?«, wiederholte er. Eine Wand aus Gesichtern baute sich auf, Gesichter aus fremden Welten, tote Grimassen, die Worte in vergessenen Sprachen heulten.
Hayes bewegte sich nicht.
»Weib, ich rede mit dir!«
Jetzt drehte sie sich um. Das Gesicht des falschen Königs glänzte im Licht des Kristalls, den er in Händen hielt, einem Kristall, der nicht grün, sondern rot leuchtete, pulsierte, die Puppe einer gefangenen Seele in sich trug, zumindest tanzte ein Schatten durch das Inneren, der menschliche Züge in sich trug.
»Was ist das, ein Spielzeug?«, fragte Hayes. Sie zog ihre Lippen zurück, zeigte ihm ihre Zähne. Er wich zurück, das typische Zeichen für einen Feigling, der seinen Weg an die Spitze nicht erkämpft, sondern erkauft hatte. »Was zahlst du dafür, kleiner Mann? Deine Seele? Deine Zukunft?«
»Wie kannst du es wagen! Wie kannst du …«
Der Vorhang hinter ihm kroch beiseite. Eine Gestalt wurde ins Zimmer geworfen, krachte zu Boden. Bernhard betrat den Raum. Sein Gesicht glich der Maske eines Toten.
Soveno lachte, doch es wirkte nicht wie das Lachen eines Siegers. Er lachte, weil er glaubte, seiner größten Angst entkommen zu sein. »Siehst du das? Siehst du das, Weib? Hayes? Du verlierst. Du verlierst!« Sein Mund zuckte. Speichel kroch aus seinen Mundwinkeln. Seine Augen glühten. Er drehte sich um. »Halte dich bereit«, sagte er zu Von und Zu. Er ging in die Knie, stupste mit seinen Fingern die Gestalt an. »Dass er überlebt hat … mit einem solchen Fluch … ich hätte ihn töten können.«
»Aber du konntest nicht, Soveno«, sagte Hayes, ohne die Augen von Bernhard zu lassen. »Du konntest ihn nicht töten. Wenn er gestorben wäre, dann hätte es dein Geheimnis aufgedeckt.«