Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 13.1

Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 13.1

Das silberne Glas flimmerte und schmolz dahin. Wellen krochen mit jedem Atemzug über den glitzernden See, der sich vor ihnen ausbreitete. Das Echo des Gesichts seiner Majestät verhallte im Knirschen seiner Zähne. Seine Augen waren zusammengepresst, als würde er den Abgrund nicht sehen wollen, der in seinem Fleisch wütete.

Die Kristalle, die unter der Haut des Mannes lebten, glühten. Ihr teuflisch grünes Feuer brodelte, als ob es leben würde. Dennoch verbrannte der König nicht, auch stiegen keine Rauchwolken auf. Er schien so stark mit den unheimlichen Kräften der fremden Existenz verbunden zu sein, dass sie alles tat, um ihn am Leben zu erhalten, wie eine Krankheit, die den Kranken nicht nur befällt, sondern versucht, ihn auch leiden zu lassen. Dies war das Schicksal, das Soveno dem König zugedacht hatte, das ewige Grauen eines rachsüchtigen Zauberers.

Ja, der König lebte und atmete und die Erinnerungen an sein Versprechen, kurz bevor die drei Eindringlinge den Plan in die Tat umsetzen wollten, hingen noch immer in der Luft.

»Vernichte die Kristalle«, hatte Hayes ihm gesagt. »Vernichte alle Spuren des Monsters in Menschengestalt. Lass nicht zu, dass andere leiden.«

Und der König hatte genickt und Kemor dasselbe schwören lassen, ein wortloser Eid unter Ehrenleuten.

Ribos und Sobir waren bereits seit Stunden unterwegs, um den Scheinangriff auf die Festung vorzubereiten. In dem Augenblick, in dem die beiden Monde ihre Bahnen vollzogen hatten, was nach den Schriften, die Hayes bei sich trug und gewissen Kenntnissen in den Bewegungen der Welten, würden sie angreifen, würden Zorn und Hilflosigkeit projezieren und damit das Augenmerk auf die Welt außerhalb der Festung lenken. Hayes hoffte, dass ihre Kenntnisse über die Existenz der Felsenwächter – so nannte sie sie – helfen würde. Feuer würde die teergefärbten Holzwände zu Asche verbrennen – und die Wesen, die hinter ihnen existieren mussten, noch dazu.

Doch nun, während das Gesicht des Königs in den Wellen des Spiegels verschwamm, bis es sich ganz aufgelöst hatte, legte sich ein Hauch von Angst auf Hayes, als wäre etwas faul, etwas ungemein normales von der leicht verrotten Aura von Unwahrheiten überzogen worden. Vielleicht waren es nur Gedanken oder Träume. Keiner der beiden Männer war sich dessen bewusst, zumindest nicht offenkundig. Vielleicht war aber auch das, was Hayes erlebte, ein Ausblick auf eine mögliche Zukunft, als ob sie das abstrakte Bild eines Spieles sähe, bei dem sie die einzige Person war, die wusste, dass sie es spielte.

»Da«, murmelte Kemor. Seine Finger bohrten sich in den Griff seines Schwerts, einer Klinge, die halb so hoch war wie er selbst. Er hatte sie seit Beginn des Abends geschliffen und dann im Feuer einer Fackel mit Ruß gefärbt, sodass kein Aufblitzen der todbringenden Waffe sie verraten würde, zumindest nicht am Anfang. Hayes hatte es sich gemerkt, aber war dankbar ob der Gelegenheit, wieder etwas Neues zu lernen. »Da«, wiederholte er.

Jetzt konnte Hayes auch sehen, dass der Spiegel sich verändert hatte und dass sich hinter dem silbernen Meer Linien und Muster bildeten, die mit der Zeit in den Vordergrund traten, als wäre das Glas nicht existent und der Spiegel selbst eine Tür.

Der König trat näher heran. Sein Gesicht brannte. Er streckte mit einer schier unmenschlichen Mühe seine Hände aus und berührte die Scheibe vor ihm. Wieder rollten Wellen dort, wo seine Finger waren, aber das Bild dahinter blieb stabil. »Es wird Zeit«, meinte er und trat nach vorn.

Hayes wurde mitgerissen. Wirbel tauchten um sie herum auf, als wäre sie in einem Tunnel voller Lichter und Schatten. Umheimliche Formen grinsten von zuckenden Wänden, die fleischig schimmerten. Ein Gesicht tauchte auf, Augen starrten auf sie hinunter, ein Mund wurde aufgerissen. »Du!«, zischte eine ferne Stimme und der Blitz einer Erinnerung tauchte auf, eine Silhouette von …

»Alles in Ordnung?«, fragte der König. »Du wirkst fern. Schau, Hayes. Wir sind da.«

Sie schaute sich um. Die Welt hatte sich verändert, war greifbar geworden. Reste der Worte tauchten in ihr auf, aber vergingen schnell. Der Raum, in dem sie sich befanden, schien älter zu sein als der Rest der Festung. Die oberen Stockwerke waren sauber, fast schon rein, als wär es ein Hospital, ein Kloster. Hier unten war alles anders. Spinnweben krochen über die Wände, schwangen im Hauch eines fernen Windes hin und her. Ein gelber Schädel grinste sie hinter einer Tür aus Glas an, Glas, das alles verschwimmen ließ. Der Geruch trug Spuren von Schwefel in sich. Die Luft war getränkt vom faulen Atem der dahinrottenden Pilze, deren schwarze Leiber zu summen schienen. In einer der Ecken schwebte ein grüner Kristall, eine Handbreit über dem metallenen Gestell. Er war die einzige echte Lichtquelle.

Hayes hätte gerne etwas Zeit hier verbracht. Ihr Augen glitten über die Reste von Schriftrollen, deren Worte sonderbar anziehend wirkten, auch wenn sie sie nicht verstand. Aufgeschlagene Bücher flüsterten ihr zu. All dies hier wirkte aufgebaut, nur für sie zusammengestellt, ähnlich der Bühne eines Gauklers oder eines Barden. Sie riss sich los. Ihre Augen durchsuchten die Wände, fanden die Tür. »Hier entlang«, murmelte sie. Seine Majestät und Kemor wurden aus ihren Träumen gerissen und folgten ihr nach draußen.

Der Gang war finster. Keine Fackel brannte hier, keine Pilze krochen blass leuchtend durch die Nacht. Absolut nichts deutete darauf hin, dass jemand während der letzten Wochen seinen Dienst hier getan hatte.

»Vermutlich will Soveno nicht, dass man merkt, was er hier tut«, meinte Hayes, beantwortete damit die ungefragte Frage ihrer Begleiter. Ihre Hände wanderten an den Wänden entlang, bis sie durch kaltes Metall aufgehalten wurde. Augenblicke später brannte eine Fackel, kurz darauf eine weitere. »Gehen wir weiter«, meinte sie.

Die Gänge in dieser Tiefe waren niedrig genug, um von älteren Wesen gebaut worden zu sein. Teilweise mussten sich die drei geduckt durch enge und niedrige Passagen bewegen. Eine Treppe tauchte am Ende des Gangs auf, führte nach unten.
»Wir sind falsch«, murmelte Kemor.

»Oder auch nicht«, teilte Hayes mit. »Seht die Flammen an.«

»Das ist … nicht möglich«, flüsterte der König.

»Ich kenne die Macht des Kristalls und das ist nicht das erste Mal, dass ich so etwas sehe.«

»Aber wie kann die Flamme nach unten brennen?«

»Sie brennt nicht nach unten. Wir stehen nur nicht auf dem Boden«, meinte Hayes.

»Dann … sollten wir die Treppe hinuntergehen?«, fragte der König.

Hayes nickte. »Genau. Nach oben.«

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