Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 12

Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 12

»Eine Ablenkung«, meinte Robert und deutete auf den Spiegel, »wäre hier mehr als nur notwendig.«
Kemor blickte ihn an, als würde er ihn verstehen, aber nicht vertrauen.
»Ein Ablenkungsmanöver mit drei Männern ist schlimmer als ein Sprung in die Sonne. Wir werden kaum ein paar Augenblicke überleben.«
»Deshalb solltet ihr nicht allein … sein. Ich habe mehr Männer da draußen als ihr wisst.«
Er deutete auf eine Landkarte, berührte mit seinen Fingern Punkte, die wie Blutstropfen wirkten, wächserne Zeichen des Todes. »In den Dörfern hier in der Gegend stehen Männer bereit, die uns unterstützen. Ihr führt sie bis zum Beginn des Pfades. Dort«, er zeigte auf weitere Orte«, auf dem Pfad stehen die Versteckten und warten hinter ihren Wänden aus Holz. Nutzt Feuer, nutzt Feuer und Flammen und Schmerzen. Sie sind tot, aber noch immer reagieren sie auf äußere Reize. Reißt sie aus ihren Öffnungen, macht sie zu Fackeln.« Er blickte auf. »Ich bedauere das Leiden sehr, meine Freunde. Ich setze euch großen Gefahren aus. Das Risiko existiert, dass auch ihr sterbt.«
Er schaute Hayes an. Sie nickte ihm zu. Er redete weiter.
»Hayes und ich werden durch den Spiegel gehen müssen. Wir werden beide gehen. Sie kämpft, aber sie braucht mich, um die Magie zu bekämpfen. Ich selbst kann nicht zaubern, aber der Kristall in mir – bei Fuzan, dem Ewigen – hat mich bisher am Leben erhalten.«
»Ich bestehe darauf, dass Ich euch begleiten kann. Meine Neffen kennen die Dörfer. Sie kennen die Männer. Man kennt mich dort nicht, ich bin ein Fremder, ein Feind. Ich bitte euch, mir zu gestatten …«
Robert winkte ab, doch Hayes antwortete. »Es ist uns eine Ehre.«
Kemor drehte sich um und wanderte davon.
»Vertraut Ihr ihm?«, fragte Robert.
»Ich traue ihm nicht, aber ich kenne wenige Feinde, die schlimmer sind als die eigenen Kinder, wenn es darum geht, erlittenes Unrecht zu rächen. Selbst wenn es nur Rache ist, die ihn antreibt, dann ist er ein formidabler Kämpfer, zumindest nach dem, was ich bisher gehört habe.«
»Er ist nicht alt genug, um der wahre Kemor zu sein.«
»Und wenn er es nicht ist, so will er ihm wenigstens folgen. Durch die Unterwelten in das Reich der Dämmerung ins Licht, das sind Pfade, die für jeden jungen Krieger große Träume sind. Auch wenn die Zeit der Helden vorbei ist …«
»Die Zeit für Helden ist nie vorbei, nur die Zeiten, in denen es einfach war, ein bekannter Held zu werden«, lächelte Robert. »Vielleicht werdet Ihr einmal bekannt.«
»Davon kann ich mir auch nichts kaufen«, lachte Hayes.

Wieder zog eine Dämmerung übers Land, wurde zur sternklaren Nacht. Hayes stand wieder auf dem Berg. Hinter ihr öffnete sich ein Schatten, Arme streckten sich aus, Gelenke knackten.
»Ihr werdet euch den Tod holen«, scherzte der König.
»Irgendwann sicher, aber nicht in dieser Stunde.«
»Denkt Ihr an morgen früh?«, fragte er.
»Ich denke an all die Morgenstunden, die ich erlebt habe – und an all die Nächte, die mir entgangen sind.«
»Es ist eine schöne Welt, wenn man frei ist.«
»Oder König …«
Eine Flasche wurde neben ihr entkorkt. Der scharfe Geruch von Branntwein kroch in ihre Nase.
»Einen Schluck auf den Tod und die Freiheit?«, fragte Robert.
Hayes schüttelte den Kopf. »Ich muss ablehnen, aber danke.«
»Ihr findet Trost in der Nüchternheit?«
Hayes lächelte. Ihre Wangen brannten. Sie leckte das nasse Salz von ihren Lippen. »Ich finde weder Trost noch Nüchternheit, Eure Majestät. Ich weiß nicht …«
»Ihr seid auf der Suche …«
»So kann man es nennen.«
»Oder auf der Flucht«, meinte der König, nahm einen Schluck, drehte die Flasche um. Platschend schoss der Alkohol zu Boden, zerstob auf dem Gestein. Rinnsale rollten in die Tiefe.
»Ihr seid eigenartig, aber ich respektiere das.«
»Danke. Wenigstens einer …«
»Es gibt eine Menge Geschichten über Euch, Hayes. Habt ihr auch einen Vornamen?«
Hayes drehte sich um. »Vielleicht.«
»Keine Erinnerungen an Zeiten, in denen Euch die Mutter oder der Vater …«
Hayes winkte ab. »Ich kenne weder Vater noch Mutter, weder Sohn noch Tochter … Ich habe nicht einmal eines dieser magischen Amulette zu bieten, in denen mein Schicksal niedergeschrieben wurde. Hayes existiert seit Jahren, aber davor …«
»Aber der Name …?«
»Stand auf einem Pergament … oder waren es Risse in einer Birkenrinde?«
»Man sagt, Ihr wärt furchtlos.«
»Bin ich das? Eure Majestät …«, sie drehte sich zu ihm um. »Habt ihr einen Wunsch? Soll ich eure neue Leibwächterin sein?«
»Das wäre mein Wunsch, ja. Aber ich glaube, dass ich Euch damit gefangen nehmen würde.«
»Wieso?«
»Kein Wieso, sondern ein ›Was dann?‹ Ich glaube nicht an Schicksal, aber ich glaube an Zufälle und ich glaube, dass Ihr zufällig über etwas stolpern werdet, was Euch den Blick in Eure Vergangenheit erlaubt, nein, den Blick erzwingt. Und dann werdet ihr wirklich merken, ob Ihr furchtlos seid.« Der König drehte sich um und ging ein paar Schritte, bevor er stehen blieb. »Was immer Ihr tut, denkt daran: Die echten Schmerzen sind Teil der Seele. Ich bin bereit, zu leiden, um meine Tochter wiederzusehen. Vielleicht müsst ihr durch die Unterwelt, um Eure Seele wiederzufinden.«

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