Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 10.3

Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 10.3

»Und Sie können wirklich nichts erkennen, wenn Sie in den Spiegel schauen?«, fragte Hayes, während sie versuchte, zwischen den verschiedenen Wirklichkeiten der Splitter Gemeinsamkeiten zu finden, als wäre es ein Puzzle, nur ein Puzzle.
»Nein, nur Schmerzen. Tausendfache Schmerzen. Ich führte meine Tochter zum Spiegel und sie betrachtete ihn ebenso, wie Ihr es tut, Hayes. Sie starrte für Stunden auf die Splitter, versuchte, in den Rissen Nachrichten zu finden. Selbst im Rahmen, dort, wo unheilige Zeichen eingebrannt worden sind, fand sie keine Lösung.«
Hayes ließ ihre Finger über das alte Holz wandern, das die Spiegelscherben an ihrem Platz hielt. Unsichtbare Worte krochen über ihre Fingerspitzen, wanderten durch Fleisch und Knochen, brachten die Klinge des Dolches zum Beben. Doch all dies schien nichts zu nützen. Weder schien eine Eingebung durch ihren Verstand zu schießen, noch fand sie Formen, die in korrekter Reihenfolge etwas bedeutet hätten. Die Schrift selbst war alt, mindestens ein Jahrtausend. Sie hatte dererlei Worte bereits in den Tiefen Bibliotheken von Ur gesehen, aber nur im Vorbeigehen, im Flackern der Fackeln. Sie wünschte, sie hätte dort mehr gelernt, aber sie war jung gewesen, viel zu jung, um sich von Wissen aufhalten zu lassen.
»Wir sollten weitertrinken«, murmelte Robert.
»Nicht jetzt«, winkte Hayes ab.
»Doch, gerade jetzt. Jetzt sind wir an der Grenze zwischen Leben und Dämmerung. Alles, was geschieht, ist nur der Ratschluss uralter Götter, die hinter den Wolken, hinter den Fenster der Nacht wohnen. Selbst Aracus wird nicht helfen.«
»Aracus existiert eher nicht«, murmelte Hayes.
»So, Sie glauben also nicht an das Licht?« Die Stimme des vertriebenen Königs rollte durch den Raum und verbrannte die Atmosphäre mit giftiger Erkenntnis. »Vielleicht haben Sie recht«, teilte er mit. »Vielleicht ist alles nur Chaos und wir Menschen versuchen, Ordnung in die Welt zu bringen.«
»Ordnung war schon immer da, Eure Majestät, aber wir haben sie nicht begriffen, weil sie zu vielfältig ist – und wir armen Menschen arbeiten daran, sie zu vereinfachen.«
»Sie sind ein Mensch? Sie sind Hayes.«
»Hayes ist …« Sie stoppte.
»Ein Name? Ein Titel? Eine Rasse von Überwesen?« Er lachte, packte die halbleere Flasche und wanderte zum Spiegel hinüber. »Oder sind Sie ebenso zersplittert wie das Glas?« Er streckte seine Hand aus, klatschte die Handfläche auf die zerborstene Scheibe. »Das Feuer«, zischte er, »es verbrennt mein Herz!« Er lachte. »Mein Herz, was ist das schon wert. Bin ich noch ein Mensch oder bin ich die Puppe der grünen Kristalle in meinem Fleisch?« Er wollte zurücktaumeln, doch Hayes erlaubte es nicht, denn sie packte seine Hand und drückte sie wieder an den kaputten Spiegel.
»Was soll das? Was verdammt soll das?«
»Ruhig, Eure Majestät«, antwortete Hayes auf das schmerzhafte Zischen des Mannes.
»Was, was soll das?«, fragte er erneut.
»Schauen Sie. Schauen Sie, verdammt.« Das letzte Wort war die Reaktion auf das Verhalten des Spiegels und gleichzeitig der Alkohol, der in ihren Nervenbahnen brannte, als ob er seine ganze Kraft verbrauchte. Die Spiegelscherben fingen an, zu vibrieren. Ihre winzigen Kanten summten unhörbar, nur durch geschulte Augen sichtbar. Unendlich filigrane Fäden krochen aus der Dimension hinter den Scherben heran, suchten nach ihren Nachbarn in der eigenen Wirklichkeit, lebendiges Silber aus unheiligen Tiefen dieser »ach so geordneten Welt«.
»Was ist das?«, fragte Robert.
»Das ist der Kristall, Herr König. Das Silber hinter dem Glas reagiert mit der Energie des Kristalls in Eurem Fleisch. Das Brennen ist die interne Hitze, die Reaktion, die Alchemie, wie einige Menschen zu sagen pflegen. Verwandlungen sind bitter, sind qualvoll. Ihr selbst wirkt wie eine Sonne, die das Eis zum Schmelzen bringt.«
»Das also ist es«, knirschte der König. »Aber der Schmerz, der Schmerz.«
»Der Schmerz existiert, weil Ihr Teil des Schmerzes geworden seid. Das hat Soveno nicht bedacht. Er hat nicht geglaubt, dass Ihr den Schmerz ertragen könnt.«
»Er hielt mich für schwach, für viel zu schwach. Er meinte, dass ich nicht stark und nicht willens genug bin, das Land zusammenzuhalten.«
Hayes nickte. »Er wollte Euch leiden lassen. Aber vielleicht hat er auch bedacht … nein, das is unlogisch.«
»Was?«
»Vielleicht wusste er, dass so etwas passieren könnte und Ihr eines Tages vor dem Spiegel steht und es nicht aushalten würdet, ein anderer Mensch zu sein. Verbannung selbst hätte Euch nur in die Position gebracht, vielleicht ein neues Heer aufzustellen. Ach, was rede ich? Werde ich wieder zur Philosophin?« Hayes lachte. »Sicher bin ich eine, aber damit verdient man kein Geld.«
»Nun, was tun wir?«, fragte Robert.
»Wir? Wir werden nüchtern. Einen Tag mehr oder weniger können wir schon durchhalten.«
»Meine Tochter ist …«
»Ist sicher in den Armen des Schurken. Jetzt wird er sie noch stärker bewachen lassen. Ihr spracht von einem anderen Ausgang. Ich möchte diesen sehen. Die Männer, die ich auf der Ebene am Bergsee gesehen habe …«
»Sind ebenso Rebellen wie ich. Sie hassen Satic. Sie wissen nicht, dass ich Satic war.«
»Das müssen sie auch nicht. Ich habe sie ein wenig schlecht behandelt, während ich ihnen begegnet bin. Ich würde das gerne verhindern.«
Seine Majestät lachte. Das war das erste echte Lachen, das aus seiner Kehle in die Höhle hinausgeschossen war, ungeplant und bitter. »Natürlich, Hayes. Natürlich. Das heißt aber auch, dass Ihr nicht glaubt, dass Sie und ich den Schurken selbst töten können.«
Hayes nickte. »Ich glaube, dass Soveno einen großen Teil des Hofstaats und besonders Von und Zu in seinem Bann hält. Das sind viele Leute dort oben, Leute, die Euch als Satic kannten und nicht als anderen Menschen. Wir brauchen Männer und ich glaube auch, dass wir nicht alle durch den Spiegel in die Festung eindringen können.«
Robert lächelte. »Das heißt, Ihr wollt einen Angriff simulieren, um die Soldaten abzulenken.«
»Ja. Ich weiß nicht, ob Satic, ich meine Soveno, davon ausgeht, dass wir leben oder den Spiegel benutzen können. Ob wir ihn wirklich benutzen können, wissen wir auch noch nicht.«
»Ich gebe Euch ein Siegel und ein Losungswort und ich bitte euch, schnell zu sein. Ich habe meine Tochter gesehen und sie leidet und ich hasse mich dafür.«

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