Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 10.2

Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 10.2

»Nein, nicht … wirklich.«
»Wenn wir überleben, schauen Sie in die Archive der Tempel von Ur. Schauen Sie in die Erinnerungen von Lumi …« Seine Augen blickten in die Ferne, als ob er einer fremden, unsichtbaren Person in die Augen blickte, als gäbe es eine neue Wand, die er durchstoßen hatte, eine Wand, die heraus aus dieser Welt führte in eine andere, in welcher er sich beobachtet fühlte: der Wahnsinn eines verlorenen Königs. »Soveno also war der letzte der Herzoge, den ich überzeugen musste, sich mir anzuschließen, eine bessere Welt, ein gutes Königreich zu erschaffen. Doch ich wusste, dass er eigentlich unerreichbar war. Er war arrogant genug, mich zu informieren, dass er keine Zeit hatte, anderen zu dienen – aber er gerne bereit wäre, selbst König zu werden.«
»Was er augenscheinlich geschafft hat …«
»Ich hatte Bernhard zu ihm geschickt, weil er einen Unterhändler sprechen wollte. Bernhard war ein guter Junge, ein guter Mann. Er hat mir gut gedient … und tut es noch immer, auch wenn ›ich‹ nun eigentlich jemand anderer bin. Also er dient dem König, das meinte ich.« Robert, also König Satic, schenkte sich noch ein Glas ein. Hayes trank auch noch einen Schluck. »Als er zurückkam, brachte er ein Geschenk mit. Eine Kette aus Smaragden. Und einen Spiegel, ähnlich dem, den du hier siehst. Ich nahm die Geschenke nicht an. Aber Amalia mochte den Spiegel und ich schenkte ihn ihr. Ich war ein Narr. Ich traute zwar Soveno nicht. Doch ich vertraute noch immer Bernhard. In der Nacht erwachte ich in meinem Zelt und über mir hing das Gesicht meines Freundes. Seine Augen brannten wie grünes Feuer. Er hatte die Kette aus der Schatulle genommen und betrachtete sie und mich. Ich fragte ihn, was er wollte, doch er schien mich nicht mehr zu erkennen. Aus dem Zelt meiner Tochter kam ein Schrei. Ich wollte aufspringen, doch Bernhard hielt mir eine Klinge an den Hals. Und dann öffnete sich die Wand meines Zeltes und ein Schatten trat herein und hatte Amalia am Nacken gepackt. Ich flehte den Schatten an, mir meine Tochter zu lassen. Der Schatten lachte und trat ins Licht und er trug das Gesicht, dass Ihr seht, Hayes. Ja. Ich trage nun das Gesicht. Soveno zwang mich, die Kette anzulegen und ich fühlte das Brennen in meinem Fleisch und ich konnte sehen, wie er sich in mich verwandelte. Er sagte mir, dass er mich nicht töten würde, nur leiden lassen würde, denn ich wäre ein schlechter König gewesen. Er ließ mir die Wahl, zu fliehen und ich floh. Den Spiegel, den Sie hinter sich sehen, ist der Spiegel, aus dem er ins Zelt meiner Amalia getreten war – und er zerbrach ihn und warf ihn weg. Und nun, nach dieser Zeit, nach diesen Jahren, war ich so nah daran, meine Tochter zu befreien und nicht nur das: Mein Königreich wiederzubekommen.«
»Aber ihr tragt die Kette nicht«, meinte Hayes.
»Oh doch. Siehe her …« Robert öffnete sein Hemd und zeigte etwas, was erst wie ein Fehler auf der Haut wirkte, eine kranke Stelle, doch es war das Glimmen der teuflischen Kristalle – in seinem Fleisch. »Das war Soveno. Er meinte, es sollte mich für den Rest meines Lebens an meine Schwäche erinnern.«
»Und Amalia?«
»Meine Tochter blieb bei ihm. Zum einen wusste sie seit dieser Nacht nicht, wer ich und wer Soveno ist. Zum anderen war sie immer eine Geisel und sollte später einen fernen Prinzen heiraten. Soveno würde … wollte … den Körper des Mannes übernehmen, würde die Seele in einen jungen Körper transportieren, ewig leben.«
»Und Marie?«, fragte Hayes.
»Marie war ihre Amme. Sie war Amalia mehr Mutter, als ihre Mutter es je hatte sein können. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte und versuchte, einen Weg zu finden, um uns wieder ins Schloss zu bringen, mich wieder ins Schloss zu bringen. Über die letzten Jahre sammelten wir einige Männer, die nicht mit den neuen Wegen der neuen Majestät zurechtkamen. Sie fühlten, dass etwas anders war. Viele andere Männer und Frauen kamen zum Hof, wie man das auch nennen will. Sie kennen mein altes Ich nicht, nur das neue. Ich habe hier, in dieser Tiefe, eine neue Heimstatt gefunden, zumindest hatte ich es. Ich versuchte, mit Hilfe meiner Tochter, die mich nicht erkannte – wie hätte sie auch? – ins Schloss zurückzukommen, den Schurken die Kette zu entreißen und ihn in die Tiefe zu stürzen.«
»Ihr redet wie ein Held, nicht wie ein König«, antwortete Hayes.
»Ich habe genug Schlachten gesehen, um zu wissen, dass ich kein Held bin. Ich bin nur der Vater einer Tochter und eines Landes. Ich wollte Frieden. Stattdessen sitze ich in dieser Höhle mit diesem Spiegel.«
»Und mit mir.«
»Und mit Euch, ja.«
»Es gibt sicher einen anderen Ausgang.«
»Ja. Einen anderen Ausgang gibt es schon, aber der einzige Weg in die Festung ist besetzt von den versteckten Mördern, die Soveno erfunden hat. Diese Kreaturen, sie sind keine Menschen mehr. Welcher Mensch steht Tag und Nacht hinter einem Schild, wartet auf Leute, die sich anschleichen wollen? Nein. Der einzige Weg ist der Spiegel. Ich meine, war der Spiegel.«
»Und Amalia, sie hätte …?«
»Ich weiss nicht. Marie meinte, sie hätte von ihrem neuen Vater Dinge erlernt. Keine Güte und Freundlichkeit, sondern Verachtung für die Menschen um sie herum. Magie tut das mit einem, Hayes. Sie macht einen arrogant, bis ein Menschenleben nichts mehr wert ist.«
»Ich hoffe, Eure Enkel und Urenkel sind weiterhin so weise wie ihr.«
Robert zuckte mit den Schultern und schwieg.
»Immerhin konntet Ihr Von und Zu einige Schläge verpassen. Der Kristall …«
»Wuchert in meinem Fleisch und ich habe Augenblicke, in denen ich merke, dass er mir Kräfte gibt, die er mir aber jederzeit wieder abnehmen kann. Ich konnte nichts gegen Bernhard ausrichten, weil auch er sich in der ständigen Anwesenheit dieser grauenhaften Kristalle befindet. Er glaubt, ich bin Soveno. Er weiß, dass er Satic dient.«
»Und der Spiegel ist der Schlüssel«, murmelte Hayes und richtete sich auf. Der Alkohol brannte in ihren Adern, während sie zu ihm hinübertaumelte. Sie konnte nichts sehen, was sie an sich selbst erinnerte. Stattdessen erkannte sie einen Teil einer Zeltplane und eines düsteren Gewölbes wieder, in dem verschiedenfarbige Flammen loderten.
»Der Spiegel blieb im selben Augenblick stehen, als er zerstört wurde. Die Splitter zeigen das Zelt meiner Tochter und das Labor, die Gruft, den Abgrund an, aus dem Soveno seinen heimtückischen Angriff auf meine Familie durchgeführt hat. Ich halte mich von ihm fern. Ich fühle Schmerzen, wenn ich ihm nahekomme. Es ist, als ob mich die Erinnerungen an mein altes Leben überwältigen. Ich fühle ein Feuer in meinem Herzen …« Robert saß noch immer vor der Flasche, die nun halb leer war und betrachtete sein falsches Spiegelbild im braunen Glas. »Und nun hat Soveno meine Tochter wieder. Und Bernhard hat Marie ermordet. Und die Höhle wird entweder unser Grab sein – oder wir fliehen in ferne Länder.« Er lachte leise. »Lieber sterbe ich in der Nähe meiner Amalia. Ich bin ein Ausgestoßener, Hayes. In allen Landen werde ich ein Ausgestoßener bleiben.«

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