Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 10.1

Hayes – Die verlorene Prinzessin – Kapitel 10.1

Hayes erwachte aus der traumlosen Dämmerung der Bewusstlosigkeit. Mühsam rappelte sie sich hoch, während sie versuchte, ihre Gedanken in echte Bilder zu pressen – oder anders herum. Sie konnte ihre Augen öffnen, sah aber nichts, bis auf winzige verzerrte Linien, Winkel und Kanten, helle Risse in der scheinbar endlosen Nacht. Ihr Rücken brannte. Ihre Arme und Beine folgten dem Ruf ihres Oberkörpers. Jeder Muskel versuchte, sie daran zu erinnern, dass sie lebte. Der Druck von vielen tausend Zentnern an Gestein um sie herum schrumpfte ihre Existenz ins Nichts. Jemand stöhnte, fast direkt neben ihr. Sie drehte sich um, sah aber nichts.
»Ist da jemand?«, fragte sie. Die Frage selbst brannte Löcher in ihr von Staub bedecktes Gesicht. Blut krustete langsam vor sich hin, wie sieh mit ihren klammen Fingern fühlen konnte. Sie musste also schon länger hier liegen. Ihr Körper arbeitete bereits hart daran, sie zu heilen. Sie streckte sich. Bröckchen von Gestein rollten von ihrer Lederrüstung, die augenscheinlich an einigen Punkten gerissen war, weil auch hier Blut über die Risse sickerte.
»Hm«, knirschte die Stimme neben ihr wieder.
»Robert, ja?«, fragte Hayes. »Sie leben also.«
»Leben«, meinte die Stimme, »ja. Leben. Helfen Sie mir.«
Sie griff nach unten, fand die ausgestreckte Hand des Mannes und zerrte ihn in die Höhe. Er wirkte kleiner, als ob der Druck auch ihn schrumpfen ließ.
»Sie hätten gehen sollen, als es möglich war.«
»Das habe ich von des Königs Leibwächter auch gehört.«
Robert lachte. Seine Stimme blieb dumpf, hinterließ jedoch ein Echo, was andeutete, dass der Raum entweder größer war als gedacht oder einen Ausgang hatte. Hayes trat zu den Rissen im Gestein. Ihre Finger wanderten über die Felsbrocken, suchten nach breiteren Rissen.
»Lassen Sie das. Kommen Sie.«
Sie drehte sich um und hörte, wie der Mann davonwanderte. Sie folgte ihm, versuchte es zumindest. Hin und wieder krachte über ihnen der Felsen, als ob er noch nicht fertig wäre mit seinem Zusammenbruch. Staub regnete weiter auf ihr herunter.
»Gut«, hörte sie ihn murmeln. Licht schoss durch die Finsternis. Sie musste ihre Augen schließen, um nicht blind zu werden. »Kommen Sie schon, Hayes.«

Der Raum schien unberührt zu sein. Noch immer hingen hier Scherben in einem Rahmen, der ein Spiegel sein sollte. Alte Bücher lagen auf noch älteren Tischen, die jemand vor Ewigkeiten an den Wänden aufgestellt hatte. Mehr oder weniger kostbare Kunstwerke klebten zusammengeschnürt, von Tüchern halb bedeckt in den Ecken. Zwei Stühle standen auf da, vor einem Kabinett voller Flaschen, in denen farbige Flüssigkeiten neblig dahinkrochen. Tote Schädel beobachteten sie aus leeren Augenhöhlen, grinsten lippenlos in ihre Richtung.
»Wenn ich raten darf, ist der Leibwächter also ein Schurke.« Hayes setzte sich auf den freien Stuhl.
»Wollen Sie was trinken?«, fragte der Mann namens Robert.
»Besser als nichts«, murmelte Hayes.
Sie stürzte das goldbraune Feuer hinunter. Es riss ihre Mundhöhle entzwei, verbrannte ihre Kehle, packte ihren Magen und zurrte ihn zusammen, so dass sie rülpsen musste. »Noch einen bitte«, bat sie.
Robert lächelte, doch seine Augen blieben bitter.
»Wer sind Sie wirklich?«, fragte sie.
»Wie bitte?«
»Sie wissen, was ich frage. Ich weiß, dass Sie die Prinzessin nicht entführt haben. Sie ist mehr oder weniger freiwillig hergekommen, nicht wahr?«
»Ja. Woher wissen Sie das?«
»Weibliche Intuition. Ich habe zum Beispiel am Flaschenzug kein Gestell gefunden, um sie hier herunterzutransportieren. Gut, sie hätte sich festhalten können, weil sie Angst hatte. Aber auf der anderen Seite ist Marie, also die echte Marie, die Zofe, weiterhin auf dem Schloss geblieben, hat sich in eine Hofdame verwandelt, um eine Entführung zu bezeugen. Wieso sollte man das tun, wenn man eigentlich fliehen könnte?«
»Sie sind intelligent. Man hat mich vor Ihnen gewarnt. Nein, das ist falsch. Man hat mir gesagt, dass Sie sehr intelligent sind und wie ich sehe, auch sehr überlebensfähig. Ja. Amalia ist freiwillig hergekommen, mehr oder weniger. Sie stand unter dem Einfluss des Mannes, den Sie als König Satic kennen.«
»Und wer ist dann Von und Zu … Siep-Zeilip?«
»Nun, der ist echt, aber gleichzeitig falsch. Sie sollten die Prinzessin zurückbringen, weil sie zu gefährlich war – für ihn und Seine Majestät.«
»Wer sind Sie dann?«, fragte Hayes. »Sind Sie der echte König?«
Robert hob seinen Blick. »Das war gut geraten. Verdammt gut geraten.«
Hayes nickte. »Ich bin wirklich gut im Raten. Aber wieso sind Sie hier und nicht im Schloss? Wer ist denn nun oben im Schloss?«
»Dort oben ist ein Feigling, gespielt von einem Monster, geschaffen von Magie und Möglichkeit. Er hörte auf den namen Soveno, Soveno der Grauenhafte. Soveno, der Schlächter der Zehntausend.«
»Es tut mir leid, Eure Majestät, ich …«
Er winkte ab. »Nennt mich bitte nicht Majestät. Ich habe alles verloren. Ein Königreich, für das ich viele Jahre geopfert habe. Eine Tochter, die ich sehr liebe, aber die mich nicht erkennt, nicht in dieser Form. Ich war weder ein guter Vater noch ein guter König, nur ein Idiot, der glaubt, dass er die Welt bewegen kann – nur einen Hauch in die richtige Richtung.«
»Aber wie konnte er Euch … in diesen Körper pressen und euch in die Ferne schicken?«
»Er war ein Magier, ein bösartiger Mensch. Hier oben, zwischen den Bergen, in seiner Festung, hier hatte er seit gefühlten Jahrzehnten Experimente betrieben, mit Kristallen, unheiligen Beschwörungen, die auf die Zeiten von Koros des Alten zurückgehen. Sie kennen die Geschichte sicher, die Geschichte von Koros und dem Fuzan.«

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