Ein Haus im Nirgendwo

Ein Haus im Nirgendwo

Es war Freitag. Morgens. Freitagmorgens. Die Dämmerung hatte vor Stunden bereits versagt, hatte den Innenhof und die angrenzenden Gebäude in graues Tageslicht gekleidet und dann verlassen, doch der Tag wollte einfach nicht aus der Tiefe seines Schlafs herausschleichen. Nur langsam näherten sich einzelne Wolken, wurden aber von den Tönen der spät erwachenden Natur zurückgedrängt. Die Natur, ja. Die Natur war ein Haufen von Vögel, eine Herde von Kühen, ein letztes Schnarchen, von dem ich erwachte. Ich war der Schnarcher selbst und stand bereits, mit einer Tasse Kaffee bewaffnet, am Küchenfenster und starrte in die Baum-durchbrochene Ferne.

Das Grasland hing in den Seilen. Rappelte sich wieder auf. Fiel zurück auf die Knie. Irgendwo würde sicher ein Schiedsrichter bis 9 zählen und dann „Aus“ rufen, doch das kümmerte mich weniger als ein Schluck Wasser in einer Wasserflasche, die ich zum Recycling bringen musste.

Irgendwann.

Nicht jetzt.

Ich drehte mich um und betrachtete die Küche. Hinter mir stand nun das Fenster, rechts von mir ein Schrank, links die Tür zum Flur. Vor mir, scharf ausgeschnitten, hing eine Tür in der Wand, führte zum Wohnzimmer, daneben Waschbecken, Herd, Mülleimer. Hinter mir, auf der linken Seite, summte der Kühlschrank. Nicht gerade neu, daher laut. Alles schien grau zu sein, selbst meine Haut. Ich war jung, vielleicht 30 Jahre alt. Oder 40 Jahre. Jung ist, wie man sich fühlt und meistens fühlte ich mich alt. Dem Tod nah.

Etwas bewegte sich hinter mir. Ich musste mich nicht umdrehen, um aus dem weichen Schatten eine Person zu erschaffen. Ich nahm noch einen Schluck Kaffee, dann drehte ich mich doch um. Setzte die Tasse auf den Tisch. Betrachtete den lebendiggewordenen Schatten. Anders gesagt: Nicht gerade lebendig, aber beweglich. Es war ein Slowie. Ich konnte nicht erkennen, wie alt er war, wie frisch oder alt sein Körper war. Denn am Ende ist jedes Wesen Futter für die Würmer und der Slowie war eindeutig gut abgenagt worden.

Ich finde es noch immer faszinierend, wie eine Gestalt ohne Hirn die Fähigkeit besitzt, sich zu bewegen. Elektrische Impulse kommen aus einem Hirn. Aber das Hirn ist so weich, dass es theoretisch direkt nach dem Tod beginnt, zu zerfließen. Theoretisch müsste das Hirn eines Slowies irgendwie präpariert worden sein, länger zu existieren. Oder Natur und Wurm sind nicht daran interessiert. Ähnlich wie Augen. Wie schnell verrottet ein Auge. Sicherlich sehr schnell. Also wo kommen Augen in Slowies her?

Ich gestand mir ein, dass meine Fragen zu nichts führten. Die Gitter vor meinem Fenster, die mein Hirn sonst ausblendete, krochen zurück in die Wirklichkeit. Der Slower bewegte seine abgenagten Finger, kratzte am Glas, als ob er noch irgendeinen anderen Willen besaß, als jenen, mir die Reste meines Hirns auszusaugen.

Reste. Manchmal erinnere ich mich, wie ich hierhergekommen bin, sicher. Worte und Bilder blitzen auf und zerfallen wieder. Ich höre Worte, aber sehe niemanden. Ich vermute, das liegt an meiner Isolation.

Ja, ich war schon lang hier.

Jedenfalls ließ ich den Slowie allein, durchquerte die Küche, wanderte nach links, betrat den Flur. Eine Treppe schob sich von links nach rechts nach oben, darunter eine andere Treppe, die offenkundig nach unten führte. Ich nahm die Treppe nach oben.

Im ersten Stock des Hauses befand sich das Lager, das ich vor ein paar Wochen erst gefüllt hatte. Staub hing auf den Kisten mit dem Brandzeichen militärischer Organisationen, die ich nicht erkennen konnte, so alt wirkten sie. Ich sammelte das Holz im Keller, weiß ja nie, wann der Strom ausfällt.

Ich ging über den Flur, öffnete einen Schrank, nahm ein Gewehr heraus. Meine Prüfung ergab, dass ich noch 6 Magazine zur Verfügung hatte. Danach würde es schwierig werden.

Das Gewehr. Auch hier lag Staub auf dem Lauf. Wann hatte ich das letzte Mal einen Slowie gesehen? Nun ja, besser ein Slowie als ein anderer der Untoten. Einen Slowie konnte ich treffen.

Ich wanderte die Treppe hinunter. Langsam konnte ich hinter der Stille der endlosen Dämmerung die Geräusche des Untoten hören, unendlich langsam, unendlich arbeitssam. Für eine Zeit hatte man überlegt, Slowies als Energielieferanten einzusetzen oder als Sklaven. Hatte sich dann nicht gelohnt. Sie waren einfach zu dumm. Zu langsam.

Ich wanderte in die Küche zurück. Der Slowie war nicht mehr allein. Ich konnte wenigstens drei andere sehen, die ihre dürren Fingerknochen gegen das Glas rieben, als ob sie damit irgendetwas erreichen würden.

Ich drückte einen Knopf, links neben dem Tisch. Ein Motor surrte leise und gut geölt. Vorsichtig öffnete sich das Fenster, die Kante fuhr nach oben. Die Geräusche der Untoten wurden lauter, ich konnte fast Worte hören. Bald waren ihre Hände in Reichweite, dann ihr verfallener Brustkorb, auf dem die Rippen vor sich hintrockneten. Ich hob meine Waffe. Schoss.

Der erste Slowie wurde nach hinten geworfen. Das Loch in seinem Kopf rauchte. Ich lud durch. Schoss. Auch der zweite und dritte Slowie reagierte gleich.

Doch der vierte machte mir Sorgen. Er reagierte anders, fiel auf die Knie. Verwirrend, ja.

Doch mehr noch als das sorgte mich, dass aus dem Hintergrund 5 oder 6 Fasties heranrasten. Fasties sind schnell und gefährlich. Man sagt, sie waren Drogen oder Giften ausgesetzt, die sie stärker machten, klüger, doch sie waren selten. Viel zu selten für die Gegend hier. Hatten sie sich versammelt und einen gemeinsamen Plan geschmiedet?

Ich fühlte eine leichte Panik aufsteigen. Der Kaffee kroch aus meinem Magen in meine Kehle zurück, sauer und schmerzhaft. Mein Gewehr funktionierte noch. Ich schoss ein paar Mal, aber traf sie nur an Schulter und Armen, dennoch wirkten sie langsamer.

Auf eine schnelle und feige Idee hin hämmerte ich auf den Knopf, so dass das Fenster wieder nach unten raste. Nun ja, Rasen ist der falsche Ausdruck. Die Bewegung wirkte sehr langsam, als ob mein Kopf viel schneller arbeitete als eben jener Motor. Ich musste mich entscheiden. Und ich entschied mich. Ich betete, drückte ab. Die Kette, die den Motor mit dem Fenster verband, knirschte laut, dann riss sie. Das Fenster raste nach unten, aber nicht ohne dem vierten Slowie, der gerade dabei war, sich hochzuzerren, die Hand abzutrennen, die auf den Küchentisch fiel und dort zuckend liegenblieb. Schwarze Flüssigkeit rann aus dem Stumpf und aus dem noch zuckenden Körperteil, das ich mit einem Messer, das noch in der Spüle lag, an den Tisch heftete.

Nun wurde es schwieriger. Wie bekannt ist – obschon völlig sinnbefreit -, reagieren Untote auf Töne eher als auf Bewegungen, als ob die nicht vorhandenen Reste des Hirns eher auf Töne als auf Bewegungen … nun ja, reagieren. Dieser Satz bereitete meinem Kopf Sorgen. Ich ging daher zum Wasserkocher zurück und schaltete ihn an. Hinter mir wurde das Licht dunkler. Natürlich war es mir bewusst, dass dieser Wechsel aus den Schatten mehrerer Untoter zusammengesetzt war. Ich hatte allerdings keine größere Beeinträchtigung zu erwarten. Wenn – so war mir mit einem Mal schmerzlich bewusst – sie nicht einen anderen Weg in mein Haus finden würden. Daher entschloss ich mich, die anderen Fenster zu prüfen.

Ich betrachtete die Öffnungen im Wohnzimmer, doch sie waren schon vor einiger Zeit zugenagelt worden. Außerdem würden die Untoten den Berg zwar hinaufwandern, aber weder die Terrasse noch den Balkon betreten können. Außer, sie fanden einen Weg, miteinander zu kommunizieren und Pläne zu schmieden, was ich nicht vermutete. Wie ich schon sagte, ich war mir der Absonderlichkeit der Untoten durchaus bewusst. Außerdem, so wusste ich, ist ein Plan in dem Augenblick obsolet, wenn die Wirklichkeit eintrifft.

Der Wasserkocher knirschte, als er mit seiner Arbeit fertig war und ich goss mir, zurück in der Küche, eine neue Tasse Kaffee ein. Die Menge der Untoten vor meinem Fenster hatte sich deutlich erhöht, es mochten 6 oder 7 dieser Kreaturen sein, dazu noch einige Fasties in der Ferne, die zwischen den Baumstämmen herumwanderten, als wüssten sie, wie man in Deckung geht.

Der Kaffee schmeckte wie immer, schal und uninteressant. Es wäre nett gewesen, etwas zu Essen zu finden, aber das hob ich mir für den Abend auf. Außerdem fand ich es immer unästhetisch, an einem Tisch zu sitzen, während einige Untote durch das Fenster starren, ihre schleimigen, madengefüllten Münder gegen das Glas gepresst. Es war nicht das erste Mal, dass sie so nah herangekommen waren, aber doch bemerkenswert, dass sie wirklich in mein Haus eindringen wollten.

Vielleicht war es doch an der Zeit, eine neue Bleibe zu suchen. Das Haus, das ich bewohnte, gehörte nicht wirklich mir, aber seit Ausbruch der Plage gab es viele leerstehende Objekte und viele davon waren auch gut ausgestattet, was mich anfangs verwirrt hatte. Die Zeit hatte mich gelehrt, dankbar für diese Glücksfälle zu sein.

Aus der Tiefe des Kellers kroch ein Knirschen ins Erdgeschoss hinauf. Ich stellte die Tasse ab, nahm das Gewehr, prüfte den Ladezustand, holte die Taschenlampe, die auf dem Kühlschrank lag, verließ die Küche und ging in den Flur hinaus. Mein Herz zuckte, ich hoffte, es würde sich beruhigen. Wieder knirschte etwas. Ich schlich an der Treppe vorbei und fand mich vor der Kellertür wieder. Auch hier hatte der frühere Herr des Hauses – oder die Dame des Hauses – Vorsicht walten lassen und ein dickes Schloss benutzt. Dankbarerweise hing der Schlüssel direkt daneben. Der Schlüssel glitt ins Schloss, das Schloss klickte, ich zog es ab und legte es auf den Boden. Vorsichtig öffnete ich die Tür.

Ich war vor längerem schon einmal dort gewesen, hatte dann aber viele Nahrungsmittel nach oben getragen, die Kisten von Einweckgläsern und Dosen ins Erdgeschoss und dann in den ersten Stock gezerrt. Im Keller war es zwar kühl, aber auch feucht und ich wollte nicht, dass der Rost die Oberhand gewänne. Außerdem waren die Fenster geschlossen, vergittert, teilweise zugemauert. Ein vernünftiger Luftstrom war also unmöglich.

Offenkundig hatten die Versuche, den Keller für die Untoten uneinnehmbar zu machen, nur zeitweise funktioniert. Es klapperte, ein einzelnes Glas fiel zu Boden, zerbrach. Ich packte die Waffe fester, ging zwei Treppenstufen in die Tiefe und schloss die Kellertür hinter mir. Nachdem ich meine Waffe angelegt hatte, wartete ich. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die trübe Finsternis. Ich hielt meinen Atem flach und leise, bemühte mich um absolute Stille, aber mein Herz schlug weiter, als ob ich es nicht kontrollieren konnte.

In dieser Zeit geschah nichts. Ich wartete, doch weder sah noch hörte ich Bewegungen zwischen den halb gelehrten Regalen. Ich wartete weiter, zählte zwei Mal bis einhundert, dann stand ich auf. Mein Kopf streifte die niedrige Decke, dumpfer Schmerz fuhr über meine Haut. Kalk blieb auf meiner Stirn kleben. Ich wischte ihn ab.

Ich schlich zwei weitere Stufen hinunter. Der Keller blieb weiter so leblos wie zuvor. Die Waffe in den Händen und die Taschenlampe in der Hand schob ich mich an der Wand entlang. Ich lugte um eine Ecke in den Nachbarraum, wo man einst die Kohlen gelagert hatte, doch außer dem verfallenen Kohlestaub fand ich nichts.

Wieder klirrte es.

Ich fuhr herum.

Blickte nach oben.

Ich hatte die Quelle des Knirschens und Klirrens falsch eingeschätzt!

Die Waffe im Anschlag stampfte ich die Treppe hinauf. Der Flur war ruhig. Die Haustür, verriegelt und verrammelt, hatte dem Angriff der Untoten standgehalten. Aber als es wieder klirrte, wusste ich, dass ich wirklich in Gefahr war.

Die Treppe zum ersten Stock wirkte klitschig, fast nass. Hatte ich … nein, ich hatte kein Fenster offen gelassen. Ich marschierte in die Höhe, rutschte fast aus, konnte mich aber am Geländer festhalten. Eine Gestalt trat mir entgegen, mehr Schatten als Mensch. Ein Untoter war er, doch ich konnte nicht erkennen, was genau er war, Slowie oder Fastie. Oder etwas anderes.

Er murmelte etwas, grummelte, brüllte. Hob seine Hände, als ob er mir Zeichen geben oder sich ergeben wollte. Hinter ihm folgte ein weiterer. Dann ein weiteres Paar Arme. Ich schoss. Lud. Schoss wieder. Zwei der drei Untoten wurden zurückgeworfen, doch als ich erneut feuern wollte, war die Waffe leer. Ich hörte mich selbst fluchen, zerrte die Lampe aus meiner Tasche und warf sie in die Höhe.

Dann verlor ich den Halt. Die Lampe flog durch die Luft, krachte gegen den Kopf des Untoten und rollte davon. Ich flog auch, aber die Treppe hinunter. Auch mein Kopf krachte gegen irgendetwas. Dann klickte es. Feuer bäumte sich auf. Feuer? Aber ich hatte kein Feuer.

Die Flammen wirkten unwirklich. Das Haus selbst verlor ebenso seinen Halt in der Realität. Etwas bewegte sich in meinem Verstand. Oder war es außerhalb meines Kopfes? Ich hörte das Raunen der Untoten. Schreie in der Ferne. Rote Lampen, die das Feuer ersetzten. Ich hob meine Hände, um den baldigen Angriff des überlebenden Untoten – faszinierende Wortkombination, nicht wahr? – abzuwehren, doch aus seinen zerfallenen Gesichtszügen formten sich Worte und Bilder, die ich nicht verstand. Auch verstand ich nicht den Zustand meiner Hände. Sie wirkten, als ob sie nicht die meinigen waren, grau und lang, abgenagt und gleichzeitig aufgedunsen. Ich wollte etwas rufen, doch aus meinem Mund drangen Geräusche, die ich selbst nicht verstand. Wer war ich? Fragen rollten durch meinen Verstand, doch war es noch der meinige? Und wie lang war ich hier? War ich wirklich seit Jahren unterwegs? Das waren meine Gedanken, bevor die Wände zur Seite kippten. Ein panisches Gesicht hinter einer Wand aus Glas und orangener Kleidung starrte mich an, doch ich erkannte es nicht. Dafür erkannte ich in der Spiegelung die Wahrheit: Die Plage existierte. Ich existierte.

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