Es ist eine Schande

Es ist eine Schande

Es ist eine Schande, dachte sie. Sie war sich gewärtig, dass die Vorhänge den Glanz der Sonne hereintrugen. Die Muster in dem dünnen Stoff bewegten sich leicht unter der Brise eines beginnenden Sommertages. Die Blumen auf dem Rasen vor dem Haus schmiegten sich aneinander, pressten ihre roten und gelben Köpfe gegen die ihrer Nachbarn, ihrer Freunde. Hinter dem Moire-Effekt der Gardinen wirkte die Gegend wie der Traum einer guten Nachbarschaft. Die hellgelben Wände der gegenüberliegenden Häuser strahlten. Irgendwo spielte ein Rudel Jungen ein Ballspiel. Rauch stieg auf, vermutlich begann Raul wieder, seinen Smoker anzuheizen, für eine seiner berühmten BBQ-Parties, die alle Menschen der Umgebung heranzogen wie ein Magnet aus Fleisch und Soße. Die Erinnerung an Kraut- und Kartoffelsalat, an warmes Knoblauchbutter-getränktes heißes Brot, das Ploppen der Flaschen, das bitter – „extraherbe!“ – schmeckende Bier, kälter als ein Wintermorgen. Ein Auto fuhr vorbei, langsam genug, um aufzufallen. Es war dunkelblau, von der Farbe eines vergessenen Gewitters. Der Fahrer trug einen Anzug und sein Gesicht unter dem Hut wirkte entspannt, leicht gebräunt, als hätte die Sonne selbst einen Abdruck hinterlassen.

Sie trat vom Fenster zurück. Die Bilder, die sich in ihrer Fantasie eingeprägt hatten, verschwammen, wurden von den Wänden überstimmt und verdrängt. Die Wände wirkten warm. Die Tapete war von hellem Eierschalengrau geprägt, winzige Muster erzeugten in den Schatten Wirbel, die für einige Leute Buchstaben darstellen hätten können. Die Zeichnung, die sie und ihr Mann vor zwei Jahren auf einem Flohmarkt erstanden hatten, hing über dem Sofa. Es zeigte einige Schiffe vor dem Abgrund endloser Schwärze. Feuer rollte durch die erdachte Finsternis. Ein Teil des Rumpfes eines der Schiffe fehlte. Winzige Linien in grauem Rot erinnerten an Opfer des Kampfes, hilflos in den Fängen des eigenen Unglücks. Der Rahmen dazu war verschwunden, vermutlich in einem der Feuer selbst.

Sie setzte sich auf das Sofa. Ihre Finger glitten über den flachen Tisch, auf dem ein paar Kaffeebücher lagen, moderne Kunst, Autos des 20. Jahrhunderts, Reisebilder aus Ozeanien. Sie öffnete das Buch mit dem Aufdruck eines Miro-Bildes. Sie betrachtete die harten Linien des Suprematismus 56 von Malevitch, fühlte die Bewegungen in den Farben und Mustern. Ihr Herz schlug schneller. Sie schloss das Buch, stand auf.

Ihre Augen glitten zum Fernseher. Große Gesichter machten große Augen, bewegten sich hin und her, getrieben von den Armen und Schultern, die an dünnen oder fetten Hälsen hängen. Hinter ihnen flimmerten Bewegungen, eingespielte Filme, grobkörnig und panisch. Ovale Lichter sendeten gleißende Linien über den Himmel. Zweidimensionale Feuer brachen aus. Häuser wurden zu Abdrücken ihrer Erinnerung und verschwanden. Winzige Fahrzeuge, vermutlich Panzer, erwiderten die tödlichen Grüße der apokalyptischen Armada über ihren Köpfen, aber ihre Raketen oder Kanonenkugeln prallten ab, aber das war nicht zu sehen.

Sie schaltete den Fernseher aus und ging in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank, betrachtete den Inhalt. Für einen Augenblick leuchtete das Licht im Kühlschrank rot, dann wieder hell und gelb. Sie griff hinein, zog eine Flasche heraus. Sie schloss den Kühlschrank, öffnete die Tür eines Wandschranks und holte ein Glas heraus. Sie goss sich etwas ein, verschloss die Flasche wieder, stellte sie zurück in den Kühlschrank. Es ist eine Schande, dachte sie.

Sie nahm einen Schluck und wanderte in den Garten hinaus. Die Luft war gesättigt vom Duft der Blumen, der Sonne. Der Geruch von Metall lag in der Luft, Metall und Feuer. Sie blickte über die hohe Hecke in die Ferne. Wolken rollten über den Horizont, begannen, den blauen Himmel zu verdecken, langsam und unaufhaltsam. Sie schloss ihre Augen und sog die Gerüche über ihre Ohren ein. Sie drehte sich um, wanderte in das Haus zurück, spülte das Glas ab. Es ist eine Schande, dachte sie, sagte sie leise.

Ihre Stimme hörte sich anders an als sonst. Aber das kümmerte sie kaum noch. Als sie ins Bad gehen wollte, blieb ihr Fuß hängen. Sie schaute nach unten.

Raul schaute sie an. Und Margarete. Und Regina. Und John, William, noch ein John, ein James, eine Martha, ein Leopold, Roger, Paul, Mary, Tristan, Charlie, George, Wilhelm. Sie blickten sie an. Etwas zuckte hinter den Augen ihres Mannes, dessen Namen sie schon begann, zu vergessen. Luis.

„Es ist eine Schande“, sagte sie, während sie zwischen den Körpern der Nachbarn nach Lücken suchte, um sie nicht zu treten. Im Nachhinein würde das auch keinen Unterschied mehr machen. Aber für die Dauer von drei Jahren hatte es einen Unterschied gemacht.

Im Bad angekommen, betrachtete sie sich im Spiegel. Sie schüttelte ihren Kopf. Wellen flossen durch das Silber hinter dem Glas. Mit der Zeit hatte sie die Projektion so weit perfektioniert, dass sie selbst davon ausgegangen war, ein Mensch zu sein. Doch das war nun nicht mehr nötig. Die Maske ihrer Wirklichkeit wurde davongeweht, ähnlich wie die Menschheit aus den Geschichten des Raums in die Vergessenheit transportiert werden würden.

Hinter dem offenen Badfenster hörte sie Stimmen, Flüche, Schreie. Sie nickte ihrem kahlen grauen Kopf zu. Ihre schwarzen Augen glitzerten. Sie drehte sich um, verließ das Bad, durchquerte den Raum, ging zur Haustür, öffnete sie. Sie ging nach draußen. Ihre dünnen Beine wirkten hilflos, aber eigentlich brauchte sie keine dieser Anhängsel. Der Wagen mit der Farbe eines vergessenen Gewitters stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er war leer. So leer wie ihr Herz. Es ist eine Schande, dachte sie. Wirklich eine Schande.

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