Die Marskriege von 1938. (M)ein Geständnis.
Sie können sich nicht vorstellen, welche Dinge ich in meinem unendlich kurzen Leben gesehen habe. Sie haben ja keine Ahnung davon, zu welchen Dingen die Menschen im Stande sind, wenn es nicht anders geht. Wenn sie glaube, dass es nicht anders geht. Jedenfalls sind die Leute ziemlich verrückt.
Deshalb habe ich auch, bis ich 40 Jahre alt war, in einem dieser Irrenhäuser verbracht. Nein, nicht als das, was Sie denken, als ein Insasse oder so etwas. Nein, ich war, sagen wir so: Mann fürs Grobe. Essen hinstellen, die Leute beobachten, dem einen oder anderen einen Tritt geben, wenn er wieder austickt. Das Übliche halt. Wir waren damals ein recht gutes Team, Richard, Gustav und ich. Jung und in Saft und Kraft. Und das Geld, das wir für diesen Knochenjob bekommen haben, gleich umgesetzt auf Gin und Weiber. Lang ists her. Seitdem sind viele Jahre ins Land gezogen. Nun, am Ende der 1920er Jahre, wenn diese Erde mal wieder einer verdienten Katastrophe ausgesetzt ist und man sein Geld besser verbrennen kann, als es auszugeben, im gepflegten Alter von 53 Jahren sitze ich, die einen kalten Waschlappen im Nacken in meiner Bude und schreibe.
Es hätte ein großes Buch werden sollen, aber man kennt das ja: „Geschichten aus der Anstalt – Tod und Wahnsinn“ sind zwar in, aber ich war immer faul. Und ich hab mein Leben mit Weibern und Wacholderschnaps ausgefüllt, war auch in Ordnung. Doch bevor mich Gevatter Tod auf die Schultern tippt und mir damit andeutet, doch bitte mitzukommen, notiere ich noch schnell eine Geschichte, die der kommenden Generation helfen kann, sich vorzubereiten.
Es war das Jahr 1898 und die Welt, wenn man von ihr als Mensch sprechen kann, auf das großartige Jahr 1900. Einige Leute glaubten, man habe alles bereits entdeckt, es gäbe nichts mehr, was das Universum erschüttern könnte. Die Musik war ganz in Ordnung. Einige Kriege hier und da, was macht das schon. Sonne und Mond und Sterne standen am Himmel. Jedenfalls arbeiteten Richard, Gustav und ich in der Klapse. Es war ein gutbezahlter Job. Mein Chef, Aufseher William B., meinte immer: „Verdammt, ihr seid einfach zu gut bezahlt für diese Rasselbande hier.“ Dabei kaute er immer auf seiner Zigarre herum. Er leistete sich keine neue.
Eines Tages kam Richard aufgeregt in unseren Wartebereich gerannt, den Kopf rot vor Anstrengung und vom Alkohol und meinte: „Das müsst ihr euch ansehen!“. Klar sind Gustav und ich mit einer gewissen Gemächlichkeit aufgestanden und ihm gefolgt. Richard war immer sehr aufgeregt, von daher war es uns eigentlich egal, was wir sehen würden.
Wir liefen hinunter in den Keller. Es gab 2 Kellergeschosse, ganz unten für die total wahnsinnigen Verbrecher, darüber, mit etwas mehr Licht, die Abteilung für die Leute, mit denen man nichts anfangen konnte, die einfach, wie soll man sagen: Unrettbar verloren.
Richard blieb vor einer der Türen stehen, aufgeregt wie ein kleines Kind. „Bist du besoffen“, fragte Gustav. Richard schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall. Schaut mal in die Zelle.“
Ich zuckte mit den Schultern.
Als ich hineinschaute, dauerte es eine Weile, bis die Schatten verschwanden. Was ich sah, war irgendwie lustig, machte ein bisschen Angst und, faszinierte mich.
„Sammelt der Mann Papier“ fragte ich Richard. „Nee, der schreibt, die ganze Zeit. Immer wenn ich hier war, schreibt er.“ „Sowas wie Logomanie“, meinte Gustav stolz. Ich lächelte ihm zu: „Soso, ein Fremdwort kannst du auch schon!“
Richard schob mich beiseite und schaute wieder in den Raum hinein. „Der Mann ist seit 28 Jahren hier. Hat mir der Chef im Geheimen gesagt.“ Er nickte. „Er schreibt nur. Alle halbe Jahr muss ich rein und seine ‘Werke’ rausbringen. Und ich muss für frisches Papier sorgen.“
„Sonst was?“ fragte Gustav.
„Ich weiß nicht. Ich befolge nur Befehle. Und ich kriege Bonusgeld dafür, dass ich es keinem sage.“ Richard zuckte mit den Schultern.
„Das du mit uns teilen wirst“, deutete ich an, „sonst wissen es bald alle.“
„Hey Mann, das kannst du doch nicht…“ dann begriff Richard. Ich lächelte jovial. „Keine Sorgen. Dein Geheimnis bleibt unter uns.“
„Hat man ihm schon mal das Papier weggenommen?“ fragte Gustav. Richard nickte. „Ja, hat der Chef auch gesagt. Aber dann ist was furchtbares passiert und… man hat ihm Papier in Hülle und Fülle versprochen und hier eingesperrt. Draußen wäre er nicht überlebensfähig, würde wohl verhungern und verdursten. Eher das, als nicht zu schreiben.“
Wir trafen uns am Abend wieder. Wacholderschnaps und Weiber. Aber irgendwas bohrte tief in einem Inneren. Ein gemeiner Schweinehund war ich manchmal unter dem Eindruck von Alkohol. Richard schlug mir auf die Schultern. „Du denkst doch nicht an unseren Freund, den Schriftsteller?“
Ich schüttelte den Kopf.
Es war eine Lüge.
Die nächsten Wochen verbrachte ich damit, mir Gerüchte und Einzelheiten des Falls einzuholen. Der Chef war in den „Sommerferien“, die anderen Kollegen durch die Hitze dieser Augusttage apathisch bis zum reinen Dösen auf Arbeit.
Was ich herausfand, war faszinierend, bohrte sich in die finstersten Ecken meiner Seele. Der Mann war im Jahre 1812 geboren, hatte eine furchtbare Kindheit gehabt und hatte sein Seelenheil durch die Schriftstellerei gefunden. Er war so verdammt erfolgreich, dass man ihn auch in 100 Jahren nicht hätte vergessen. 1870 verschwand er, bzw. er „starb“. Zumindest gibt’s ein Grab, das ich besucht habe. Ich bin nicht der einzige Besucher gewesen, nur einer von vielen „Fans“, fanatischen Anhängern seiner Kunst. Ich fand seine Bücher langweilig. Zuwenig Kriminalstück, zu viel „soziale Kritik“.
Dann verging der Sommer und der Herbst erwachte und der Mann in der Zelle, lebendig und wahnsinnig ließ mir keine Ruhe mehr. Ich musste wissen, was er schrieb und besonders, warum er schrieb. Ich hatte noch die Worte im Kopf „Aber dann ist was furchtbares passiert und… man hat ihm Papier in Hülle und Fülle versprochen und hier eingesperrt.“
Ich lächelte und Richard, der zufällig anwesend war, zuckte zurück. „Mensch, reg mich doch nicht so auf.“
An einen Schlüssel zu kommen war einfach. Ein Verschwundener Mensch hat keine Besucher, niemanden, der ihn befreien will. Gustav legte ihn immer in seinen Schrank und dachte noch immer, ich sei sein Freund. Dummer Mensch.
Der 30. Oktober 1898, in sonntäglicher Minimalbesetzung, war perfekt. Die Türe zu meinem Gast öffnete sich leise wie der angespannte Atemhauch einer Katze. Ich konnte das Kratzen eines Stiftes auf Papier hören. Trotz der nachmittäglichen Zeit war es finster wie eine Neumondnacht. Die Schatten, die meine Laterne über die Stapel wild dahingestellter Papierseiten warf, schwebten wie riesige Häuser an den Wänden.
Der Mann wirkte winzig in seinen Mauern aus Schriften. Sein Bart erweckte in mir den Wunsch, daran zu ziehen und mir etwas zu wünschen. „Böser Zwerg“ kicherte ich. Ich weiß heute nicht mehr, warum ich ihm den Stift aus den Händen nahm. Was mich ritt, ihn hochzureißen und in seine erstarrten Augen zu blicken. Seine Stimme war wohlklingend und auf faszinierende Art und Weise furchtbar eloquent:
„Mein Freund. Geben Sie mir bitte den Stift wieder.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Kein Stift mehr für dich, Charlie.“
Sein Kopf begann zu vibrieren. „Geben Sie mir bitte den Stift wieder.“
Ich lehnte erneut ab. „Dann lassen Sie mich bitte weiterschreiben. Es ist…. wichtig.“ sagte er mir und seine Stimme schien flehender zu werden.
Ich hielt ihn noch immer fest. „Das wird eine Heilung auf die alte Art und Weise.“
„Sie verstehen nicht, mein junger Freund. Es geht nicht um mein Leben, sondern…“ er stoppte. „Bitte!“ Seine Stimme begann zu zittern. „Sie vernichten damit diese Welt!“
Ich warf ihn zur Seite. „Wieso, alter Mann?“
„Ich habe… einen Besucher.“ er tippte sich auf den Kopf.
Ich brach in lautes Lachen aus. „Nein, Sie sind nur wahnsinnig. Ich zeige ihnen etwas.“
Einige Minuten später warf ich das zappelnde Stück Patient auf den Rasen vor dem Irrenhaus. „Und jetzt?“
Seine Schreie hatten die anderen Patienten an die Fenster gelockt. Sie waren still, aber ich fühlte ihre Augen auf meinem Rücke.
„Also. Vernichten Sie doch diesen Planeten!“ lachte ich.
„Bitte, einen Stift. Ich muss schreiben!“
Ich packte den Mann wieder und zog ihn nach oben. Seine Augen, ein Ring aus Panik und Schmerz. Die vergilbte Haut in seinem Gesicht zeigte einen rosigen Schimmer. „Sie bilden sich was ein, Charlie.“
Dann riss etwas. Ein dünner Film aus Blut floss über seine Stirn, auf seine Nase, tropfte auf meinen Kittel. Er legte den Kopf zur Seite. „Du hast unsere Welt vernichte. Ich trage einen Besucher in mir, der seit Jahrzehnten in meinem Kopf sitzt, den ich ablenken muss, damit er nicht… damit er unseren Planeten nicht verlässt, sein Volk auf uns aufmerksam macht. Die uns vernichten.“ Er schrie und durch seinen Schrei hörte ich noch etwas anderes andere. Mit leisem Surren bohrte sich ein silberner langer Stachel direkt aus der Mitte seines Kopfes ins Freie. Nach etwa 20 Zentimetern blieb das Ding stehen, öffnete sich wie eine Blume nach oben. „Zu spät, Sie Weltenvernichter.“ Charlie lächelte ein letztes Mal und flüsterte einige Worte in die Luft. Dann schrie er erneut. Mit einem schmatzenden Knacken riss der obere Teil seines Kopfs auf, gebar eine Art metallene Birne, die sich nach unten in das Bild einer … Untertasse (?) verbreiterte. Im Hintergrund hörte ich meine Kollegen kreischen. Während das Objekt zu rotieren und dem Himmel entgegenzustreben begann, packten sie mich, warfen mich nach hinten, noch bevor die zuckende Gestalt unseres Patienten einer Marionette, einem Huhn ohne Kopf mir etwas antun konnte. Seine Hände hielten die Luft gepackt und würgten das Nichts.
Nun, das war meine Geschichte. Den verfallenen Körper unseres Ex-Patienten fand man nach Monaten nur durch den Gestank in seiner Zelle. Niemand sagte ein Sterbenswort. Meine Kollegen redeten nicht mehr mit mir. Ich entschloss mich, umzuziehen, aufs Festland, ins schöne Berlin, wo ich eine kleine Praxis habe für „Spezialfälle“. Nebenbei schreibe ich auch Kurzgeschichten. Mir geht es gut. Ich verdränge viel. Nur, wenn sich die Zeit des 30. Oktobers nähert, beginne ich, unruhig zu werden und meine Träume werden sonderbar klar und furchterregend. Und dann höre ich wieder seine Stimme und seine letzten Worte: „Dank Ihnen, junger Mann, wissen die nun, dass wir hier sind. Ich hoffe, hinter Ihrer Dummheit steckt eine Menge Tapferkeit. Gegen die Wesen, die da draußen lauern, haben wir keine Chance. Beobachten Sie den Himmel, junger, allzu dummer junger Mann. Achten Sie besonders auf den Mars. Von dort werden sie kommen, Sie Blödian.“