Das Tor des Sawta Klaws – 9

Das Tor des Sawta Klaws – 9

Irgendwo in der Ferne sah er Licht, endlich, nach Stunden des Herumwanders, Herumtaumelns, sich von den Büschen und Ästen herumscheuchen lassens. Nun war er irgendwie nach Westen abgedriftet, zumindest sagte das der dumpfe rote Ton, der am Himmel klebte, eine Erinnerung an die Vergänglichkeit der Sonne über einer sich bewegenden Kugel. Sicher war diese Welt eine Kugel und keine flache Welt.
Jedenfalls war da Licht und es lag so nah am Boden, dass es keinesfalls vom Himmel gefallen sein konnte, sondern nur in mühevoller Kleinarbeit in Jahren erschaffen worden war. Natürlich hingen Schatten an dem Licht. Es war ein Dorf. Ein Dorf voller Lichter.
Irgendwo in der Mitte des Marktes, der sicher als erstes gebaut worden war – Rolf kannte die üblichen Videospiele -, stand ein Baum, behängt mit Lichtern. Kleinere Schatten wurden in die Länge gezerrt und tanzten, irgendwie jedenfalls. Rolf konnte keine echten Bewegungen erkennen, dafür war er zu müde und zu alt.
Und er hatte Hunger. Hier draußen, umgeben von Büschen und Tieren, die sicher weniger essbar waren als jede Packung Plastik-Cornflakes oder Chemie-Burger, hier draußen war die Welt gefährlich. Außerdem war er eh in Gefahr. Sicher hatten die Elfen und Sir oder Knecht Ruprekt eine Gruppe von Kundschaftern durchs Dickicht getrieben, um ihn, jetzt, wo er hilflos war, zu finden. Und dann? Er zitterte bei dem Gedanken und das Zittern blieb auf seiner Haut hängen, wie die Kühle, die sich erneut ausbreitete. Gestern noch im warmen Bett einer Festung, heute schon erfroren. Alles unter 22°C oder Stufe 2,8 der Fernheizung war eh nicht erträglich, vielleicht kurz, wenn man kurz vor dem Feierabend der Angestellten in einen Supermarkt wanderte, ihren Blicken auswich und schnell etwas essbares in den Korb warf, um schneller draußen zu sein, als man drin war.

Jedenfalls war er hier und Licht und Wärme und eine andere Art von Gefahr vielleicht einen Viertelkilometer weg, in der Talsenke, die Rolf gut genug überblicken konnte, um ein Bedürfnis nach eben jenen Dingen zu entwickeln. Der Mond, der langsam über den Bergen aufging, tat sein übriges. Das fahle Mondlicht verbrannte die Reste der Wirklichkeit, verbannte sie in die Leere, verbannte selbst die Leere und machte alles sichtbar, was unsichtbar bleiben sollte. Fast war der Mond der große Befreier, aber seine kalte Logik, die alles auslöschte, was die Sonne zum Leben erweckt hatte, machte ihn tödlich, sodass Rolf sich im Schatten eines großen Baums versteckte, dessen Kanten im Licht funkelten, als würde ihn jemand versuchen, ihn mit einem Skalpell zu zerlegen.
Als Rolf versehentlich seine Hand ins Licht streckte, fühlte er einen brennenden Schmerz, als würde er Eis packen. Als er seine Hand zurückzog, war sie anders als zuvor. Er betrachtete seine beiden Hände. Die rechte Hand war alt, ein alter vergilbter Zauberer. Die linke Hand, vom Mond geschnitten, war dicker. Seine Finger waren kürzer und breiter, Bergarbeiterhände, wie man sagte, nicht geeignet für filigrane Arbeiten. Es war seine Hand, geerbt aus Generationen harter Arbeit der Vorfahren. Es war seine Hand, eine Rolf-Hand, keine Hikikomori-Wizard-Hand.
»Oh«, entwich ihm. Das Echo dieser beiden Buchstaben, dieses Hauchs des Erstaunens legte sich in den Schatten der Büsche um ihn herum. »Oh«, wiederholte er und er fühlte, wie die Blätter und Zweige der Bäume sich ihm zuneigten, als wären sie interessiert an seinen Worten.
Zu einem dritten »Oh« kam es nicht, denn er hörte Stimmen. Sie waren nicht gerade in der Nähe, auch wenn es unmöglich schien. Sie waren sicher 10 oder 20 Meter entfernt. Die Männer flüsterten, aber ihre Worte wurden zu Sätzen, die Rolf verstehen konnte, trotz der Entfernung.
»Er muss hier sein. Ich habe echt keinen Bock, die ganze Zeit hier draußen zu verbringen, während der Chef Party feiert.«
»Schnauze. Weck den alten Zauberer nicht. Der ist sicher schon am Schlafen. Alte Leute schlafen. Der sicher auch.«
»Der ist ein Zauberer«, meinte eine dritte Stimme. »Zauberer schlafen nie.«
»Ach geh doch zu deinem Chef und sag ihm, dass du keine Lust hast. Er wird dich dann anschauen und dich in einen Spekulatius verwandeln und dich dann zertrampeln.«
»Ach so, macht er das?«, fragte die zweite Stimme. »Wusste nicht, dass er Zauberkräfte hat.«
»Wirklich?«, fragte die erste Stimme. »Der Mann führt eine Bande von Elfen an. Natürlich hat er – per se – Zauberkräfte.«

Die drei Männer waren offenkundig unglücklich genug, um Rolf aufzuschrecken. Sie würden ihn außerdem bald finden und zu Knecht Ruprekt oder zu einem anderen Chef zerren.
Es gab nur einen Weg.
Rolf rollte ins Licht.
Er fühlte sich vom Mondlicht gepackt, geprüft, ausgelacht. Die Klingen des Lichts arbeiteten an ihm, vereisten ihn in ihren Bewegungen, setzten ihn wieder zusammen, patschten dem zuckenden Stück Fleisch mit Rolfs Seele dann auf den Kopf und ließen ihn fallen wie einen jungen Hund, der gerade das erste Mal nicht auf den Teppich gekackt hatte.
»Hey du«, hörte Rolf.
»Heyyyyyy du?«, meinte die zweite Stimme.
»Wer bist du, was machst du hier?«
»Äh«, hörte sich Rolf sagen.
»Na?«
»Was macht … ihr hier?«, fragte Rolf und hob seine Augen.
Vor ihm standen drei Männer, sie waren sicherlich fast so groß wie er und zwei von ihnen wirkten wie fette Kinder, der dritte allerdings trug den Gesichtsausdruck eines Clint Eastwood Charakters, der gerade dabei war, zwei Banden einer Stadt in die gegenseitige Selbstauslöschung zu treiben.
»Also?«
»Ich … weiß nicht.«
»Hast du einen alten Mann gesehen? Vielleicht 500 Jahre alt? Bart? Lange Finger? Lustigen Hut?«
Rolf schüttelte den Kopf. »Ich bin neu hier.«
»Wir auch. Steh schon auf. Ich kann mir ja das Unglück nicht mit ansehen. Steck auch mal dein Hemd in die Hose. Du willst doch nicht unordentlich aussehen, wenn wir dich ins Feuer schmeißen.«
Rolfs Gesicht musste Bände sprechen.
Der Clint-Mann lachte. »Steh schon auf. Wir bringen doch niemanden um. Aber solltest du Bock haben, ein paar Leuten beim Sterben zuzusehen, laden wir dich gerne ein. Es gibt auch Glühwein und ein paar zerlegte Tierteile, die gerade geröstet werden. Hast du überhaupt schon einmal vom Sawta Klaws gehört? Er ist der Erlöser der Menschheit und er wird Frieden bringen, dort, wo nie Frieden existiert hat.«
Die beiden anderen nickten. »Aber was ist mit dem Zauberer?«, fragte einer.
»Der ist irgendwo nach Norden abgehauen, um seine Freunde zu befreien. Oder das Tor zu öffnen, hinter dem die Apokalypse wartet.«

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