Das Tor des Sawta Klaws – 11

Das Tor des Sawta Klaws – 11

Rolf saß am Feuer, doch diesmal an einem anderen. Die Hütte brannte. Alle Hütten brannten. Der Zug der Elfen wanderte bereits weiter, schweigend, wie eine Armee von Untoten. Nur Rolf saß noch da, starrte auf seine Füße, auf das Feuer, das brannte, die Flammen, die um ihn herum flackerten.
Er war nicht allein. In einem der Feuer lag jemand, eine ihm unbekannte Person. Sie war grün, also die Kleidung. Und sie brannte nicht. Dafür brannte die Person in der Kleidung.
Rolf wunderte sich. Und er wunderte sich nicht.
Die Person hatte ihn angegriffen. Sie hatte ihre Faust auf seinen Nacken geschlagen, hatte ihn damit fast betäubt. Der Schmerz war dumpf gewesen. Der Schmerz hatte ihn an seinen Nacken erinnert, wenn er zuviele Spiele spielte oder wenn er einmal wieder zusammengesunken dagesessen hatte, um sein Leben in die Reihe zu bekommen, nächtens, wenn draußen alles schlief und er gefühlt der einzige Mensch war, der noch existierte.
Der Schlag hatte ihm den Kehlkopf betäubt. Er hatte kaum Luft bekommen, hatte sich schwach gefühlt, war in die Knie gegangen.
Ein zweiter Schlag war nicht wirklich gelandet, denn er war nur einen Hauch von Rolfs Kopf hängengeblieben, als wäre der Faden der Marionette zu kurz gewesen.
Rolf hatte das Gesicht seines Angreifers nicht sehen können, aber die Maske hatte auch keine Verwunderung gezeigt, nur blankes Entsetzen. Die Kringel, welche auf die Maske gestickt worden waren, hatten gezuckt. Dann war der Mann davongeflogen. War es ein Mann gewesen? Rolf hatte davon ausgehen müssen. Und auch jetzt, als der Tote im Feuer verbrannte, war er unfähig, die Kleidung zu nehmen, ohne dass das Feuer ihn verbrannte.
Endlich, irgendwie jedenfalls, erloschen die Flammen. Rolf blickte auf. Alle Feuer waren mit einem Mal erloschen. Und die Männer und Frauen und Kinder, die dem unheiligen Kreuzzug zu Sawta Klaws folgten, wirkten noch immer wie eine Wand, dort, am anderen Ende des Tales.
Die Männer, die Rolf in der Nähe des Turms gefunden hatten, hatten ihn nicht mehr gesucht. Warum hätten sie auch. Sie hatten ihn nur mitgenommen, weil sie Weihnachtsgefühle hatten. Oder sie hatten gehofft, von ihrem Chef eine Auszeichnung zu bekommen, weil sie es »zumindest versucht« hatten. Der Turm war weg, nur noch eine brennende Ruine, in der Rolf sowieso nichts gefunden hatte, außer einen Teil seiner Vergangenheit, die er jetzt gerade nicht gebrauchen konnte.
Er packte den Umhang, zerrte ihn aus der Asche. Die Kleidung war fast schon kalt. Die Knochen und vergilbten Reste alter Schriften, die Rolf nicht entziffern konnte, rutschten aus dem unteren Ende der Kutte. Wo sie landeten, machten sie keine Geräusche.
Er zerrte sich die Kutte über den Kopf. Drinnen roch es wie in der Speisekammer seiner verstorbenen Großmutter. Es roch nach Plätzchen und getrocknetem Zitronengras, nach DDR-Plastik und klebrigen Gummibändern, die Einweckgläser zusammenhielten, hinter deren dicken Wänden graue Erdbeeren dahinschliefen. Es roch nach Heimat.
Er öffnete die Augen, nahm die Maske und legte sie auf sein Gesicht. Sie hüllte ihn ein. Er fühlte, wie sie mit ihm reden wollte, aber das war in einer Sprache, die er nie gekannt hatte.

Es dauerte einige Zeit, bis Rolf dem Zug folgen konnte. Er fühlte sich alt. Seine Finger, die vom Mondlicht ihr Alter, ihre Hikikomori-Existenz verloren hatten, waren wieder gewachsen, hatten sich wieder in die des Zauberers zurückverwandelt. War es das Tageslicht, das soviele Dinge verhüllte? Oder war es einfach die Aufgabe seines Körpers, den Leib des Toten fortzubewegen, bis er einen Weg fand, in seine Welt zurückzukehren?
Er hatte noch immer kaum Informationen. Infodumps mochte er zwar nicht, aber er mochte Worldbuilding, und diese Welt hier wirkte wie der verzweifelte Versuch, einem bekannten Regisseur ohne Drehbuch einen Film abzuverlangen, als wäre eine AI fähig, eine passende Geschichte zusammenzustellen, ohne zu ignorieren, dass Menschen wirklich 5 Finger hatten.
Er holte die Gruppe ein. Es waren alte Leute, die er zuerst sah. Selbst die Kutten konnten ihr Alter nicht verdecken, nicht ausblenden. Sie gingen gebeugt, als würde die Last der Jahre ihnen vorschreiben, was sie zu tun hatten. Einige der Kutten wirkten allerdings schmaler, als habe jemand die Kinder in sie gesteckt und Zeit und Magie hätten sie langgezogen, bis sie in die Kleidung gepasst hatten, bis sie Teil dieser unwirklichen Masse geworden waren.
Die Leute schwiegen und marschierten. Rolf konnte nicht ausmachen, ob irgendjemand überhaupt stehenblieb oder langsamer wurde. Und auch er selbst fühlte nun diesen Drang in seinen Füßen, in seiner Hüfte, einen Drang, zu marschieren. Es war wie ein Magnet, der ihn durch die Gegend lenkte, aber vermutlich war es nur die Magie der eigenen Aufregung, die ihn und die anderen nach Norden zerrte.
Die Zimtstraße. Natürlich. In einer Welt mit einem Sawta Klaws und einem Knecht Ruprekt und in einer Welt, in der es Magie gab, da musste es eine Zimtstraße geben. Sicher gab es auch einen Stollenweg und eine Familie Lebkuch irgendwo in der Ferne, die sich um die große Mauer aus Dominosteinen kümmerte. Rolf seufzte nicht. Er war nur noch Teil einer Geschichte, die davonwanderte, und die ihn natürlich mitriss. Er hatte nicht wirklich viel zu sagen in dieser Sache, nicht wahr?

Die Gruppe stoppte irgendwo 20 oder 30 Kilometer entfernt. Der Tag war lang gewesen, viel länger als üblich. Die Sonne hing schon in den Ringseilen und der Mond starrte in berechnender Logik über die Ebene, welche hinter den schmalen Waldstreifen hing. Hier wurden Feuer gemacht, Büsche in Brand gesetzt.
Alle Anwesenden wurden von einem unbekannten Befehl gepackt und verteilten sich in einem Kreis über die Fläche. Es waren wenigstens 500 Leute. Ein Ton wurde angestimmt. Er rollte über das Gras hinweg, benetzte die Feuer, ließ sie funkeln und springen. Die Feuer wurden zusammengezerrt, wie von einem Gummiband in die Mitte der Gruppe gerissen, wo sie in tausend Farben zu explodieren schienen. Dann hob sich aus ihnen eine dünne Linie in den Himmel, welche sich aufspaltete, immer und immer wieder, Äste und Zweige bildete, Lichter und Nadeln an diese Zweige hing und den dumpfen Geruch chemischen Nadeldufts erzeugte, der Rolf fast zum Erbrachen gebracht hätte. Dann stimmten sie alle ein Weihnachtslied an. Und im Schatten des brennenden Weihnachtsbaums konnte Rolf seine Freunde erkennen, die dabei waren, sich ihre Ohren zuzuhalten.

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