Das Opfer
Sie hatten mich eingekesselt. Ich konnte den stinkenden Atem hinter den Mauern riechen, schlimmer noch hinter Fenstern und Türen, obwohl ich versucht hatte, diese luftdicht zu verschließen. Sie rochen nach Schweiß, nach Aftershave, nach Bakterien und Pilzen, die sichg in den Falten ihrer Körper langsam ausbreiteten, bis sie Haut und Fleisch besiegt hatten. Ich roch das Öl ihrer Waffen, den metallen Klang ihrer Handschuhe an den Abzügen. Ich roch das Kupfer der Patronen, das weiche Material, das nur dazu existierte, zu zerstören. Aber sie zerstörten gerne. Ich konnte fühlen, wie geil sie waren, wie erregt, wie das Wurzel-Chakra zwischen ihren Genitalien mit dem zusammengezogenen rektalen Ringen herumtanzte. Sie waren Opfer und Täter. Ich hörte ihre Herzen, Motoren aus Fleisch und Saft, aus Blut und Schleim. Ich hörte, wie sie ihre Augen bewegten, wie die Muskeln, die sie bewegten, knirschten, während ihre Nackensehnen surrten.
Sie waren hier, um mich zu töten. Sie waren nicht hier, um mich gefangenzunehmen, mich zu verschleppen. Sie standen vor meiner Tür, weil sie den Befehl hatten, mich zu vernichten. Ich fragte nicht, warum. Ich wusste, warum.
In der Regel sind die Opfer gewisse Lebewesen, die dafür erwählt wurden. In alten Zeiten wurden Menschen dazu erzogen, keine Menschen zu sein, sondern Heilige, da sich das Göttliche nur durch das Heilige selbst ernähren kann. Rituale und Gebete mögen den Hunger zu stillen, aber entsprechen eher Fastfood. Doch ein echtes Opfer ist etwas anderes. Es entspricht einer langen Reihe von Menüs, die zum Ende hin immer aufwändiger werden, bis die Göttlichkeit befriedigt und das Mahl beendet ist. Es dauert, bis das Göttliche satt ist. Und es ist nur satt für eine gewisse Zeit. Ja, man mag diesem Glauben vorwerfen, dass das Göttliche keine Zeit kennt, aber es kennt Bewegung und Bewegung existiert nur in einer Abfolge von Stufen von Punkt A zu Punkt B. Also weiß das Göttliche, dass etwas existiert. Und Existenz benötigt Nahrung.
Nun, das Göttliche sieht sich selbst als Alles und wir sind ein Teil des Ganzen, des Göttlichen. Also ist das Füttern des Göttlichen lediglich eine Wiedereinnahme des eigenen Daseins, die Auflösung eines Teils, um mehr de Ganzen zu werden. Wir sind Splitter eines Puzzles und das Puzzle strebt nach Perfektion.
Ein Opfer ist also lediglich eine Erinnerung, dass wir nicht aus uns selbst existieren. Und genau diese Emotion ist nötig, um ein Opfer zu heiligen: Die absolute Aufgabe der eigenen Person, die totale Hingabe an die eigenen Auslöschung.
Ob ich das schaffe? Ich bin geneigt, das zu glauben. Jedes Opfer hatte am Ende diesen Blick in den Augen, diese absolute Auslöschung der Seele, die nun endlich frei war, um sich mit dem Göttlichen zu vereinigen und dieses zu nähren. Es war der Blick eines Schafs oder einer Ziege, der Blick eines Hundes, der in völligem Vertrauen dahinschwindet.
Doch ich kann nicht allein das Göttliche nähren oder füttern. Ich bin Teil einer Gruppe, die sich darauf beruft, erwählt zu sein. Seien es Worte oder Bewegungen: Die Gruppe weiß, wie man darauf reagiert, wie man einen Adepten zum Märtyrer macht. Und damit meine ich nicht die exzessive Notwendigkeit des Konzepts, welches vor einigen Jahren in französischen Filmen vorkam. Leid war nie notwendig, um Gott zu sehen. Es ist nicht Leid, das Gott sucht, es ist Ekstase, eine rationale Ekstase. Gefühle sind die Summe aus Hormonen, doch Rationalität ist die Summe der Erkenntnisse. Und so folge ich den Wegen der Erkenntnis.
Es ist Erkenntnis, die dem Opfer zeigt, dass es existiert, um zu sterben. Der Tod ist unerheblich. Es ist das Sterben, das uns die absolute rationale Ekstase beschert. Und ich werde dem bald folgen.
Ich habe Fehler gemacht. Oder habe ich keine Fehler gemacht? Waren die Abdrücke meiner Finger zu dick aufgetragen, um übersehen zu werden? War meine menschliche DNA zu offenkundig verteilt? Jeder vernünftige Priester der Göttlichkeit hätte seine Augenbrauen gehoben und den Kopf geschüttelt. Doch es gibt keine Priester der Göttlichkeit, die bereit sind, den Wunsch eines der Ihren zu ignorieren. Für sie, für uns, zählt nur das Ergebnis. Jedes Opfer, rational oder unrational, jeder Schrei, jedes Nicken, jedes Gähnen, jede Melodie, ist Teil eines Vertrags zwischen Opfer und Priester, zwischen Wort und Tat. Hätte ich anders entschieden, wenn einer meiner Brüder seinen Wunsch geäußert hätte? Hätte ich die theatralischen Gebete überhört, nur weil sie offenkundiger waren als die Wünsche der anderen Opfer? Sicherlich nicht.
Sie stehen vor meiner Tür. Ich kann sie riechen, rieche ihr Leben. Ich weiß nicht, was sie glauben zu tun. Ich glaube, dass sie den Auftrag haben, die Tür zu öffnen, zu schießen. Ich glaube, dass sie den Auftrag haben, sich keuchend und kotzend abzuwenden, wenn sie die Fenster öffnen, wenn Sonnenlicht auf die Oberflächen des Raums trifft. Sie wissen nicht, was sie erwartet. Sie hoffen, es ist nicht so schlimm wie so oft. Doch sie werden so reagieren, wie sie es gelernt haben. Sie werden sich abwenden und kotzen. Sie werden Verstärkung holen und Gerichtsmediziner. Sie werden nach Hause fahren, sich eine Flasche billigen Bourbons in den Hals kippen und weinen. Wenn sie dies nicht tun, werden sie das Bild nicht ausblenden können, das sie erwartet. Sie werden nicht sehen, wie sich mein Fleisch von dem Fleisch der anderen Opfer abhebt, weil die Gerichtsmediziner alles tun werden, um zu zeigen, dass sie mich retten wollen, aber am Ende doch nicht können. Sie werden versuchen, meine Venen und Arterien, meine Haut, mein Fleisch, meine Knochen, mein Ich von den Venen und Arterien, von den Häuten, von den Muskeln und Knochen derer zu lösen, die sich selbst der Göttlichkeit hingegeben haben, aus rationalen Gründen. Sie werden ein Projekt aus mir machen, die Männer und Frauen, die sich rational geben, die wissen wollen, wer und was ich gewesen bin. Sie werden mich nicht am Leben halten, denn das würde ihre Aufgabe mindern – die Aufgabe, mich ins Göttliche zu werfen, wo ich es ernähre, bis es mich wieder braucht und ich wieder zurückkomme – als was auch immer.
Ich höre ihre Handschuhe an der Tür. Ich fühle ihre Angst. Ich weiß, dass sie so sind wie ich. Ich habe kein Gesicht, um zu lächeln – dennoch lächle ich.
(Montag, 4. Juli 2022, 14:11:55)