Die Insel

Die Insel

Wo der Schlaf wenig ist, ist die Wachheit Pflicht

ich stand am Rande des Flusses. Ich war verborgen in den Büschen am Rande des Flusses. Ich starrte hinaus auf den Fluss. Er war leer. Noch. In der Mitte des schimmernden Stroms stand eine Insel, nur ein Haufen von Steinbrocken, überwuchert mit Algen und Schlamm. Dort hatte sich vor Jahren eine solche Menge an Schlamm angesammelt, dass einige Büsche es schafften, hängenzubleiben und weiterzuwachsen. Der Wind und das Wetter schafften es auch, einige Samen eines Baums oder was auch immer es war, auf die Insel zu befördern. Und nun stand dort ein Baum. Er war hoch, wenigstens 50 Meter, riesig im Rahmen der andern Bäume. Hier sind Bäume vielleicht 20 Meter hoch, aber nicht dort. Dort war der Baum 50 Meter hoch.

Und ich wusste, warum.

Die Insel hatte etwas an sich, das mir Sorgen bereitete – und nicht nur mir. Eine Menge Leute hatten versucht, diese Insel zu besuchen und den Baum zu inspizieren, doch sie waren nicht zurückgekommen. Sie hatten sich von ihren Freunden und Familien verabschiedet, hatten den Fluss berührt mit ihren Booten oder Kanus und waren dort gelandet. Das sagten mir die Reste der der Boote und Kanus an den Klippen nahe der Insel. Sie waren nicht auf den Klippen gestorben. Es hingen keine weißen, vom Wasser reingewaschenen Knochen zwischen den Kippen. Sie hatten die Insel berührt und hatten sie betreten.

Am Anfang waren die Männer noch glücklich gewesen, hierher kommen dazu dürfen, aber spätere Expeditionen waren sich der Gefahren bewusst, der Nimmerwiederkehr. Sie hatten sich weinend von ihren Familien und Freunden verabschiedet und waren hierhergekommen, geopfert im Namen irgendwelcher Forschungseinrichtungen oder einfach nur im Auftrag eines Irren, der an das Geheimnis der Insel gelangen wollte. Es war auch nie mehr als ein Mann gekommen. Für größere Gruppen war einfach kein Platz, weder beim Landen noch beim Betreten der Insel. Wie ich schon sagte: Die Insel war eigentlich gar keine Insel, nur ein Haufen von Steinbrocken, bedeckt mit Algen und Schlamm und dem Baum.

Ich beobachtete die Insel. Mein Fernglas berührte die Kanten, die aus dem Wasser hervortraten wie Warzen aus Stein. Ich führte meinen Blick entlang dem rechten Rand, dort, wo der Fluss seine größte Kraft hatte, wo er noch immer versuchte, die Insel wegzuschieben, wie ein Mensch eine Wunde herauspressen will aus seinem Fleisch, eine Warze aus seiner Haut, eine Krankheit aus seinem System. Ich konnte den Zorn des Flusses spüren, seine Ohnmacht.

Ich folgte dem Rand, den Kanten. Einige Büsche summten unhörbar in der Gischt, welche die unteren Teile der Insel umgab. Sie waren dumpf, trugen kaum Grün an sich, die Zweige waren blank ihrer Rinde, weiße Finger wie Knochen eines Toten. Man konnte fast glauben, die Verschwundenen wären Teil der Insel geworden.

Dann der dicke Baumstamm, der sich in die Höhe streckt und am Ende in einer Baumkrone landet, welche so wirkt, als ob sie die ganze Kraft aus der Insel zieht. Die Rinde ist schwarz und glänzt im Licht der untergehenden Sonne wie Pianolack, rot und blutig wie ein alter Film. Der Baum trägt keine Äste unterhalb 50 Meter und dann sind sie kurz und knorrig wie tote Arme. Erst am oberen Ende, auf den letzten Metern beginnt die Baumkrone, üppig wie die Krone eines verlorenen Herrschers.

Auf der anderen Seite des Baums, flussabwärts, liegen weder Büsche noch Baum, sondern nur blankes Land, blanker Felsen, welcher dann in den Fluss zurückfällt und verschwindet.

Und dafür sterben Menschen. Dafür verlassen Männer ihre Familien und Freunde. Dafür geben sie alles auf. Nur für diese Insel, inmitten eines Flusses.

Die nächste menschliche Behausung liegt 20 Kilometer Flussaufwärts. Es ist eine winzige Siedlung, ein Warenhaus, ein halbes Dutzend schiefer Hütten und eine kleine Kapelle. Dort holen sich die Besucher ihre letzte Ölung, dann schlafen sie. Manchmal sind sie allein, manchmal sind sie nicht allein. In den Hütten diskutieren sie dann am Funkgerät mit ihren Auftraggebern, hören die letzten Rufe ihrer Kinder, das Schluchzen ihrer Frauen. Dort besuchen sie noch einmal in einer der Hütten eine jener Damen, die ihnen zumindest eine letzte Freude bereitet. Und dann steigen sie in ihre Boote oder Kanus, bekreuzigen sich und lassen sich vom Strom herantreiben.

Es gibt keinen Weg, der Insel zu entkommen. Wenige, sagen wir, gar niemand hat es bisher weiter geschafft als bis zur Insel. Sie ist wie ein Magnet. Du kannst dich an den rechten oder linken Rand des Flusses halten. Du kannst versuchen, gegen den Strom zu kämpfen, doch am Ende führt dich dein Weg immer auf die Insel.

Nur zu Fuß kommst du tiefer flussabwärts. Doch das willst du nicht. Du willst auf die Insel. Du willst nicht weiter flussabwärts. Das merkst du erst, wenn du nahe der Insel bist. Du siehst die Insel. Sie sieht dich. Du versuchst, an ihr vorbeizuschauen. Du siehst dahinter, flussabwärts, andere Dinge, die du nicht sehen willst. Du siehst genau das, was du am meisten fürchtest. Oder auch nicht.

Flussabwärts ist die Welt eine andere. Du glaubst an Himmel und Hölle? Du glaubst an Verdammnis? Du glaubst daran, dass am Ende aller Tage Gericht gehalten wird? Du glaubst an nichts? Du glaubst an die nordische Hel, den griechischen Tartaros? Du glaubst an die 50 Höllen der Wiedergeburt? Du glaubst an irgendwas? Jenseits der Insel existiert alles. Alles gleichzeitig. Es ist eine Wand, auf die alles projiziert wird, was du nie sehen wolltest. Und jeder Meter, jede Sekunde macht es schlimmer.

Niemanden interessiert, wer auf der Insel wirklich stirbt. Manch einer sagt, es ist der Totenfluss, der ab der Insel beginnt. Vielleicht ist das so. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, wenn ich weiter durch den Dschungel gehe, werde ich eines Tages dort ankommen, wo ich hingehöre, auf die Insel. Auf der Insel endet jeder, der auf dem Fluss unterwegs war. Niemand weiß, wo der Fluss wirklich liegt. Bis man selbst in einem Boot sitzt oder einem Kanu und auf die Insel zusteuert. Ab diesem Augenblick wird alles klar. Man streckt seine Hände aus und berührt das Land, die knochigen Büsche. Und dann ist alles vorbei. Immer und immer wieder.

‎Mittwoch, ‎20. ‎Juli ‎2022, ‏‎09:11:25

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