Adventus Santa – 15 – Rattenreich
»Hallo? Candy? Wo bist du?« Rays Stimme rollte durch die wimmelnde Finsternis. Jedes seiner Worte wurde durch die grauglitzernden Kreaturen aufgeschnappt und wiedergegeben, als wären sie Papageien. Kranke Papageien.
Candys Flügel flimmerten, als wären sie bereit, zu fliegen, doch es ging immer weiter abwärte auf einem Boden, der sich bewegte wie ein fleischgewordenes Schiff. »Komm schon, wir haben keine Zeit.«
Zeit? Ray zuckte mit den Schultern. Sein bester Freund war tot, er war hier unten gefangen. All diese Gedanken blieben ohne Gefühl, ohne echtes Wissen. Er war nur noch eine Hülle, getragen von der hintergründigen Angst, hier zu verschwinden, auf ewig hier unden herumzuwandern, bis er dereinst lebendig verdaut werden würde.
»Happy Holiday« strömte durch die bittere Luft.
Rays Ohren zuckten. Was war das?
In der Ferne verschwand Candy in einer Wolke, erschien dann jedoch wieder, mehr Schatten als wirklich.
Ray stampfte voran. Ja, hier war etwas, etwas filigranes, etwas wie ein halbdickes Blatt alten Papiers oder Leders.
Das Lied wurde lauter. Eine Nadel kratzte über einer schwarzen Platte, einer Schallplatte. Aus dem winzigen Lautsprecher kratzten sich Töne in die Finsternis, die von einigen wenigen Kerzen durchbrochen wurde. Schatten flackerten an der Wand, die von Bildern nur so strotzte.
»Komm doch herein, Kind«, sagte der Schatten und deutete mit seinen langen, unendlich dürren Fingern auf einen Sessel, der so aussah, als wäre er vor 200 Jahren vom Schiff ins Meer gefallen und vor 3 Wochen wieder aufgetaucht.
Candy drehte sich zu ihm um. »Komm schon. Das ist der Pied Piper.«
»Piper?«
»Der aus Hameln. Setz dich doch. Sonst fressen dich meine Ratten.« Der Piper lachte.
Ray folgte dem Befehl.
»Also«, meinte der Schatten, der sich aus der Finsternis herausschälte und ein jugendliches Gesicht präsentierte, kaum älter als Anfang 20. »Was führt euch in mein Reich?«
»Der W…«
Candy winkte ab. »Krampus plant eine Krieg und Osterhase ist auch schon dabei. Was ist mit dir?«
»Mit mir?«, Piper lachte. Seine Stimme erinnerte an eine Blockflöte. »Ich kämpfe nicht.«
»Dabei hast du eine Armee …«
»Aus Ratten. Nein, das sind meine Freunde. Krampus bestraft böse Kinder. Ich befreie Kinder von ihren geizigen Eltern.«
»Das ist jetzt 500 Jahre her.«
»Oder auch mehr. Ich mag die neue Zeit.«
»Krampus wird kommen und auch dich holen.«
»Kann er versuchen. Meine Kräfte sind noch immer die selben wie in Hameln. Er schickt seine Kinder. Ich spiele ein paar Lieder und schon folgen sie mir in den Abgrund.«
»Äh«, antwortete Ray, »und was geschieht mit den Kindern?«
»Was weiß ich? Vielleicht entkommen sie ja und gehen in Spaßland. Vielleicht fressen die Ratten sie. Vielleicht werden sie zu Ratten. Sobald ich sie befreit habe, sind sie wirklich frei.« Piper blickte Candy an. »Ich kenne den Jungen nicht.«
»Er kommt direkt von der Erde.«
»Nicht übel. Gibt es noch immer Kriege und Tod und Eltern, denen Geld wichtiger ist als ihre Kinder?«
Ray nickte.
»Schade. Dann muss ich hierbleiben. Aber ich kann euch was sagen: Wenn Krampus hierherkommt, dann werden seine Kinder … frei sein.« Der Piper lächelte freundlich.
»Santa ist weg«, platzte Ray heraus.
»Der alte Mann«, lachte der Piper, »was macht er denn?«
Ray erzählte ihm die ganze Geschichte.
Während die Worte dahinflossen, wurde des Pipers Gesicht immer länger, sodass auch er einer Ratte, einer menschlichen Ratte glich. »Das ist ein hartes Stück Tobak«, meinte er schließlich. »Da muss man was dagegen tun.«
»Und was?«, fragte Candy.
»Ich kann nur versuchen, die Armee des Krampus ein wenig aufzuhalten. In seinem Reich fehlen mir viele Kräfte und die Wesen in mein Reich zu locken ist schwierig.
Ein dumpfer Klang bohrte sich durch die Innereien des Reiches.
Der Piper wandte seinen Kopf zu Seite.
»Ihr habt mehr Glück als Verstand«, meinte er.
»Wieso?«
»Sie sind da. Augenscheinlich wollen auch sie an den Nordpol. Wo Santa jetzt ist, weiß ich nicht. Aber nun, lauft.« Er ließ einen Pfiff fallen, die Wand hinter den Bildern zitterte, rollte zur Seite.
»Und du?«, fragte Candy.
»Ich bleibe bei ihnen.« Piper zeigte auf die Bilder. Sie waren von Kindern gemalt worden, vor vielen hundert Jahren.