Das Tor des Sawta Klaws – 14

Das Tor des Sawta Klaws – 14

Noch 10 Tage. Oder sind es 9? Endet die Adventszeit mit dem 24. Dezember?
Doch diese Fragen waren sinnlos, weil Rolf sie nicht dachte. Jemand anders dachte sie und vermied es, sie in seinen Kopf zu pflanzen, wie so viele seiner Reaktionen, so viele seiner vergessenen Fragen. Stattdessen stand er den beiden Männern gegenüber, die Ruprekt … ja was? Zusammengesetzt? Wiederbelebt? Erschaffen hatten?
»Aber nein«, meinte Viktor und lächelte. Sein totes Gebiss strahlte heller als seine toten Augen. »Wir tun unsere Pflicht. Wir erschaffen nicht. Wir erhalten auch nicht am Leben.«
»Es ist eher so«, teilte Eigor mit, »dass wir Klischees sind, sogenannte Tropes, die andere Tropes aufrecht erhalten. Wer würde sonst glauben, dass ein Mensch die vielen Jahrhunderte überleben würde, die Ruprekt nun nach einem Schlüssel sucht, um seinem Herren nahe zu sein, ihn sogar zu befreien.«
»Du bist wegen der Waffen hier, aber ich kann dir sagen, dass sie wenig bringen.«
»Warum?«, wagte Rolf zu fragen. Er wusste nicht mehr, was er denken sollte, war ja nur Teil einer fortlaufenden Folge von Ereignissen, ohne sie wirklich zu verstehen.
»Weil der Sawta Klaws befreit werden muss. Muss. Zwangsläufig. Es steht in den Sternen, in den Flüssen, in den Blättern, in all dem, was diese Welt, dieses Universum ausmacht. Du bist nicht von hier. Du wurdest herbeschworen. Sicher von den Leuten, die du befreien willst. Aber weißt du, wieso? Ich meine, ohne Vorkenntnisse kannst du doch keinerlei korrekte oder falsche Entscheidungen treffen. Jeder deiner Schritte wird vorbestimmt bleiben.«
»Ich weiß, dass Hikikomori ein Zauberer war, der den Sawta besiegt und eingesperrt hat. Und die Tür steht offen oder ist dabei, sich zu öffnen. Und das muss verhindert werden, weil sonst diese Welt untergeht.«
»Und trotzdem nennst du dich Rolf, nicht wahr? Ich hörte von dir. Davon, dass man dich in der Nähe des Turms fand. Doch du warst nicht alt. Doch nun bist du wieder alt. Wieso? Hat die Zeit deine Jugend vernichtet oder warst du schon immer alt?«
»Ich weiß nicht. Der Mond …«
»Der Mond und seine Klarheit. Es ist gut, dass du nicht draußen bist, wenn der Mond scheint, so richtig scheint. Dann wirst du sehen, wer deine Freunde wirklich sind.«
Eigor kicherte. Sein Kichern wurde zum Lachen.
Viktor zischte einen Fluch in die Welt hinaus. Die toten Hautlappen auf seinem Gesicht flatterten.
»Der Sawta Klaws war für viele Jahrhunderte eine tragende Kraft der Religion in dieser Welt. Er war der Bestrafer der Ungerechten und der Retter der Gefangenen. Er war das Licht. Doch die Menschen wurden seiner übertrüssig. Sie meinten, sie bräuchten ihn nicht mehr. Und da entschied er sich, sich zu wehren. Armeen von Elfen wurden aus den Untoten geschaffen. Sie kämpften. Sie wurden besiegt, weil Hikikomori, der Zauberer, ein Tor öffnete, durch das eine fremde Welt in die unsere eindrang, eine Welt, die nicht mehr an Gerechtigkeit glaubt, an Güte, an die Bestrafung der Täter und die Rettung der Opfer. Nein, diese Welt war nur darauf bedacht, sich selbst reicher zu machen, als sie wirklich war. Und dann regnete es Blut und Feuer vom Himmel. Und die Elfen starben oder wurden vertrieben. Und sie schlossen den Sawta Klaws ein, weil sie ihn nicht töten konnten. Doch sie konnten eine Wand aus der fremden Welt in diese Welt zerren und das Tor damit verriegeln.«
»Und dann?«
Niemand sagte etwas. Rolfs Frage verhallte in den Ecken und Winkeln der Hütte.
»Man sagt, der Zauberer ist beim Auflösen der fremden Welt in diese gefallen und hat nicht mehr zurückgefunden. Andere sagten, er habe sich freiwillig dorthin begeben, um Buße zu tun, denn er hatte begriffen, was er getan hatte. Andere sagten, der Kampf hätte seinen Verstand ausgelöscht und so würde er noch immer herumstreifen, wo auch immer. Offenkundig hat man dich aus einer anderen Welt geholt. Bist du dir sicher, dass du wirklich Rolf in deiner Welt bist? Oder bilden sich deine Gefährten etwas auf dich ein, was du nicht bist.«

»Nimm die Waffen«, sagte Viktor. »Nimm sie. Zerr sie durch die Reihen der Elfen und schau, was deine Freunde tun können. Oder auch nicht. Im Nachhinein ist alles vorgeschrieben, selbst der Zufall.« Er drehte sich um, wanderte in eine der Ecken und ließ sich fallen. »Ich werde zu alt. Ich bin vermutlich schon tot. Aber das ist die Rache, die Strafe dafür, dass ich damals dabei war. Ich habe jemanden erschaffen, der am Ende der Zeit die Zeit selbst auslöscht. Dafür wurde ich bestraft. Oder belohnt. Nimm die Waffen. Nimm sie einfach.«
Rolf blickte sich um. Die Waffen lagen auf den Tisch, auf dem Ruprekt gelegen hatte. Sie schimmerten bläulich.
»Nimm einen Sack dazu, sonst musst du zu viel schleppen«, teilte Eigor mit und warf eben jenen Sack auf den Tisch.
Rolf packte die Messer, die Schwerter ein, Maries Axt, die deutlich schwerer war als der Rest der Waffen.
»Beeil doch. Das Lied ist vorbei. Die Elfen warten schlafend oder tot, bis der Morgen anbricht. Im Licht des Mondes bleiben sie das, was sie waren: Untote, deren Seelen gefangen sind.«

Als Rolf die Hütte verließ, hing ein später Mond am Himmel. Fast berührte er die nahen Berge. Fast lag sein Licht im Schatten, sodass die Elfen aufwachen würden. Rolf eilte durch die zusammenklebenden Arme und Hände der maskierten Kreaturen. Der Weihnachtsbaum hing müde, hing träge über dem Boden. Nur der Wagen mit den Gefangenen stand da. Auch sie schienen tot zu sein – oder zu schlafen.
»Hallo?«, fragte er.
Maries Augen öffneten sich vorsichtig. »Du bist da?«
»Ja. Du hast gesagt, ihr braucht die Waffen, also habe ich sie besorgt.«
»Das war … Tage her«, meinte Marie. Sie gähnte. »Oder Wochen?«
»Ich war gerade mal vielleicht eine halbe Stunde weg.«
»Du irrst dich. Hier war es lang. Länger als ein Leben.«
Marie stand auf und weckte die anderen, die ebenso schlaftrunken wirkten. Selbst Anneas Wirklichkeit flimmerte stärker als zuvor und Klaus blickte sich um, als würde er nicht wissen, wo er war.
Maries Axt knackten das Schloss, dessen Riegel so weiß und grün-rot-gestreift war wie eine dieser Zuckerstangen.
»Wir brauchen Pferde. Und Männer. Soldaten. Wir brauchen Feuer.«
»Wir müssen erst mal fort von hier«, meinte Kingsur. »Ist nicht Ixmasia in der Nähe.«
»Einige Stunden. Länger zu Fuß.«
»Dann müssen wir uns beeilen«, meinte Klaus. »Außerdem würde ich gerne wissen, was dieser Ruprekt gemeint hat, als er sagte, dass er wissen würde, wer das Tor geöffnet hat.«

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