Das Tor des Sawta Klaws – 10

Das Tor des Sawta Klaws – 10

Das Feuer war heiß und der Glühwein noch heißer. Dampf stieg auf und versetzte die Umwelt in Nebel. In einen Nebel, der von Licht und Bewegungen unterbrochen wurde. Der Glühwein war heiß und Rolfs Hände brannten, als würden sie schmelzen.
Sie schmolzen nicht. Sie waren geschmolzen, als sie das fahle schneidende Mondlicht berührt hatten, waren frei von den Klauen des alten Mannes geworden, der ein Zauberer war. Sein sollte. Noch immer gab es Rolf keine Antwort auf die Frage, wer er war. Und was war »es«? Es war die Wirklichkeit unter seinen Füßen, der Geruch von Zimt und Nelken und Glühwein. Und die Tänze der Elfen um den Weihnachtsbaum herum, der wenigstens 15 oder 20 oder 100 Meter hoch war. Der Nebel war überall und bedeckte Rolfs Augen.
Er nahm einen Schluck. Atmete aus und ein. Er kannte Glühwein nur aus der Packung. Die Packung, die im Supermarkt am Ende stehenbleibt, dort, wo sie sich schon mit dem Ostergebäck um einen Platz prügelt. Wie Spekulatius, der bis 2 Wochen vor Weihnachten überlebt und dann von den Weisungen der Berechnungen der Supermarktbuchhaltung aus dem Programm gerechnet wird.
Wo waren die anderen? Er hatte sie bisher nicht gesehen. Wollte er sie sehen? Wollte er sehen, was geschehen würde?
Er dachte: Nein.
Nicht einmal dieser Nein-Gedanke war wirklich. Er war kein Gedanke, sondern ein Statement, ein Platz in diesem Universum, der vorher leer gewesen war.

Die Elfen tanzten vor unhörbaren Musikern, die unheimlich schöne Musik spielten. Leider war die Musik Weihnachtsmusik, die Rolf nicht leiden konnte. Es lag viel an seiner Vergangenheit, aber war eine Lüge. Er hatte, bis vor ein paar Jahren, Weihnachten immer gemocht. Hatte sich an Rituale gehalten. An Backwerk gehalten. Doch dann war etwas passiert. Rolf war sich nicht sicher, was. Waren es die Enttäuschungen gewesen, die sich wie Schnee auf seine Seelenbestandteile gelegt hatten? Oder waren sie einfach nur dagewesen. Wie alles andere.

Die Musik stoppte. Der Dampf stoppte im selben Augenblick, blieb wenige Zentimeter über der Tasse hängen, als wäre die Flüssigkeit gefroren worden. Er schaute auf. Alle schauten auf. Es waren vielleicht 30 oder 50 oder weniger Leute. Sie alle trugen die grünen Gewänder der Elfen der Stadt, das Symbol hing an ihrem Hals und auf ihren Masken, die Kringel, die immer gleich aussahen wie unendlich einsame Schneeflocken.
Eine Gestalt teilte die Gruppe. Sie war größer und kleiner, breiter und dünner als die anderen.
Knecht Ruprekt. Oder zumindest einer von ihnen. Nicht der Originale.
»Die Häretiker sind gefangen. Sie sind gefangen und sie werden uns begleiten.«
Die Elfen schwiegen. »Die Häretiker haben den Zauberer verloren. Der Turm ist ein Loch, durch das Abfall ins Nichts geworfen wird – und ähnlich dem Apfel, der zum Wurm wird, so haben wir uns darum gekümmert, dass die Welt dieses Loch nie mehr sehen muss. Schaut!«
Eine Hand wurde ausgestreckt. Ein gemeinsames Beben riss die Köpfe in eine Richtung.
Feuer riss den Himmel entzwei, packte umgebenden Bäume, und schob sie zur Seite.
»Magie hat alles verloren, was sie einst beinhaltete. Magie ist der Tod der Seele. Das Heilige Sawta hat das gesagt. Und nun folgt den Lichtern der Wanderer, meine Kinder. Wir werden die Zimtstraße betreten und den Weg in das Licht finden. Den sehet, es ist Licht geworden und die Türen haben sich geöffnet, jeden Tag eine Tür und am Ende wird die große Tür geöffnet werden.«
»Die große Tür! Die große Tür!«, summten die Elfen, die Männer und Frauen und Kinder hinter den Masken, ihre Stimmen dumpf von Verehrung, Angst und Anbetung.
Sie summten es noch immer, als Rolf vorsichtig aufstand und davonwanderte.
Die Lücken zwischen den Häusern der Stadt waren dunkel und leer. Keine Maus rührte sich. Schnee lag auf dem Gras, alter Schnee, so alt, dass er vergessen hatte, wie man knirschte. Die Fenster waren hohl, erinnerten an die Wangen von Leuten mit unendlichem Hunger.
Die Nacht war bedeckt von Sternen und dem Abdruck der Flammen der vielen Lagerfeuer, die sich um den großen Weihnachtsbaum wandten, ihn einhüllten. Doch hier, nur ein paar Meter vom Ereignis entfernt, wirkte alles nur wie ein Traum. Die Finsternis versteckte sich in den Ecken und Kanten, in den leeren Zimmern der noch leereren Häuser. Die Türen zu den Häusern und Ställen standen offen, waren leerer als ein zahnloser Mund, starrten in die Welt hinaus, als würden sie nicht begreifen, was geschah.
»Keine Sorge«, meinte Rolf, »ich weiß auch nicht, was los ist.«
Linkerhand waren Bewegungen zu erkennen, Schatten, die Chaos verbreiteten, die nicht mittanzten. Rolf konnte vor dem Feuer, welches die Schatten erzeugte, Gitter erkennen, Stangen in Holz gerammt, Holz auf hölzernen Rädern. Und in den Stangen, zwischen den Gittern, waren gesichtslose Kreaturen zu sehen.
Rolf näherte sich, wich jedoch in den schlafenden Schatten eines Hauses, als er Schritte und Stimmen hörte. Dann kroch er durch ein offenes Fenster, in das Haus, durch die leblosen Stuben und Kammern, bis es nicht weiterging. Hier konnte er nichts sehen. Er öffnete ein Fenster, kroch hinaus, wanderte einige Schritte zum nächsten Haus. Das Fenster war verschlossen. Ein Gesicht aus dem Innern starrte ihn an, kerzenloses Licht, welches den fahlen Schmerz vor ihm andeutete. Das Gesicht schüttelte den Kopf und verschwand im Schatten.
»Ihr Häretiker«, teilte eine Stimme mit. »Ihr werdet eure Häresie bereuen. Doch dich, Kinsur, dich werden wir bis zum Ende aufbewahren, in einer schönen Kiste mit Geschenkband, ein Geschenk für den Sawta Klaws. Die anderen werden sich sicher im Angesicht seiner Existenz bekehren und ihm folgen, wie die Welt ihm folgen wird.« Der Ruprekt-Typ lachte bitter, als würde er keinen Spaß verstehen. »Die Welt muss erneuert werden. Und Erneuerung funktioniert nur durch Strafen. Und für die Strafen bin ich zuständig.«
»Du bist nicht der echte Ruprekt«, brüllte eine Stimme. Marie!
»Ihr Zwerge glaubt doch sowieso nicht an unsere Götter. Ihr glaubt nur an Gold und Edelsteine.«
»Einen Gott kann man nicht anfassen. Er ist Luft und Rauch und braucht euch trotzdem?«
»Einen Gott kann man nicht töten«, antwortete Ruprekt. »Man kann ihn nur einsperren und wenn dies geschieht, dann gibt es eine Tür und ein Schloss und ich weiß zufällig, dass einer von euch das Tor geöffnet hat.«

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