Zwei Schatten

Zwei Schatten

Ich sah die Gestalt vor mir auf dem Weg zur U-Bahn. Ihr riesiger Schatten schien die Welt auszulöschen, aber es war nur das taktisch schlecht platzierte Licht der Laternen an den weiß-bemalten Neubewohnerhäusern, die zeigen wollten, wie hip sie wären, in dem Sie diese Lämpchen von Dämmerung zu Dämmerung dahinschweifen liefen.

Er war schneller als ich, ich wanderte langsam nach meinem Arbeitsabend durch die beginnende Nacht. Die Straße war fast leer, ein paar Fenster waren offen und hinterließen einen sanften Teppich aus blauem Licht und fernen Explosionen aus den fremden Welten der Fernsehprogramme. Ich sah ihn über den Hügel stampfen, als wäre etwas hinter ihm her, ich war es nicht. Ich ging nur in die selbe Richtung wie er, nun hügelabwärts an einem Amüsierschuppen in liebesblutrot vorbei, das Gebrabbel von Restaurantgästen erfüllte mich, ich lauschte Ihnen für ein paar Augenblicke, dann war ich vorbei und er augenscheinlich schon vor Ewigkeiten. Auch ich schlurfte die ermüdende Treppe in die U-Bahn-Station hinunter. Da war er wieder, das Gesicht gesenkt, starrte er auf die Gleise, stand an meinem Platz, unbeweglich wie eine Mauer. Ich stellte ich neben ihn hin, blickte auf die helle Fliese, die meinen Platz auf dem Bahnsteig markierte, um den besten Platz zu finden. Er wich mir aus, ging ein halbes Dutzend Schritte nach rechts davon. Ich blieb stehen. Merkwürdigkeiten schossen mir in den Kopf. Ich starrte die Uhr an, die mir sagte, dass es kaum noch ein paar Augenblicke wäre, bis ich endlich meinen Abgang machen könnte.

Die Bahn auf der Gegenseite fuhr davon, ich hatte nicht gehört, wie sie angekommen war, die Abendgäste ausgespuckt, neue Mitfahrer eingesaugt, eingesargt hatte. Er stand neben mir, blickte immer auf die Zeit, als ob es wichtig wäre, er hatte mich verfolgt, schleichend nur, hatte mich von meinem Platz gedrängt, als ob es der seine wäre.Endlich kam die Bahn. Doch die Position der Tür war taktisch falsch, so trat ich nach ihm in dieselbe, in der er verschwunden war, ein. Er hatte keinen Platz gefunden, einen Hauch von Genugtuung konnte ich nicht verbergen. Er schaute weg. Ich auch.

Ich hörte Musik. Er las ein Buch, irgendein schwarzes Digitalschriftstück starrte mich an. Ich hatte mein ähnliches in meinem Rucksack. Er blickte immer wieder auf und las die Stationsanzeigen mit unnatürlicher Aufmerksamkeit. Ich fand das lächerlich, aber er war halt komisch. Ich hasste es, zu stehen, gerade so lang, aber was ist, ist schlecht, also musste ich mich daran gewöhnen.

Die Fahrt zog sich hin. Das Buch war nicht gerade schlecht, aber es hätte besser sein können. Im Hintergrund war das Säuseln irgendwelcher fremdartiger Noten zu hören. Er war noch immer da. Idiot. Wann würde er aussteigen? Die Geschichte im Buch war dämlich, aber ich hatte nichts anderes und seine Musik spielte noch immer.

Menschenmassen stiegen aus und wieder ein. Der Wagon platzte und atmete wieder. Die Nacht nahm Ihre Arbeit auf und ließ nur die Bekloppten zurück, die Schlaflosen, die Trunkenen.

Er war noch immer da. Diese Fremde in seinen Augen machte mich mürbe.

Er ging nicht weg. Er blieb da, angewurzelt.

Eine Ewigkeit verstrich, ganz sachte wie eine Feile auf Blech, genauso wie die Bremsen und das Tröten der Bahn, ein Taumel aus Nichts und Allem.

Ich sah, wie er ausstieg und davoneilte. Ging er nicht in die falsche Richtung? Ja, das tat er. Dieser… Idiot. Ich… aber er hatte ja noch Zeit, sich für eine Tür zu entscheiden. Ich folgte ihm.

Er folgte mir ebenso wie ich ihm, aber das hatte keinerlei Bewandtnis, auch wenn ich seine Schuhe hörte. Ein halbes Dutzend Türen hatte er Zeit.

Die Straße lag leer vor mir. Und ihm. Die letzten Gäste hatten die Fußsteige verlassen. Der Mond kicherte leise unterm Sternenzelt.

Ich konnte ihn nicht mehr hören, aber mich umzudrehen, wäre dämlich gewesen. Ich fühlte, er war da.

Das Glastor war geschlossen, meine Finger hatten den Schlüsselbund schon Ewigkeiten gepackt und suchten den Schlüssel.

Er schloss die Tür auf, zitterte, huschte hinein. Ich wollte den meinen Schlüssel nicht suchen, also rannte ich los und erwischte das Glas noch im letzten Augenblick. Er stob davon. Der Innenhof war einsam.

Er wohnte im Haus?

Ich suchte die Tür… vermutlich, ich meine, es gab noch andere Türen im Innenhof… er musste mir nicht folgen. Ich stieß die Tür auf und schloss Sie hinter mir. Die Treppe. Ich hörte seinen Schlüssel.

Idiot. Wieso riss er die Tür so zu? Hatte er Angst? Ich hätte Angst haben müssen! Ich meine… was, wenn er wusste, er ich war?

Die Treppen hinauf. Es knackte hinter mir. Schlüssel klimperten theatralisch. Seine Schritte waren überall.

Er stand vor der Tür. Sie war reflektierte ihn. Sie reflektierte mich. Er drehte sich um. Unsere Blicken trafen sich. “Hallo Emanuel” sagte er.

“Hallo Emanuel” antwortete er. “Feierabend” sagte er. Wir nickten. “Wir wissen” sagten wir, “dass wir Fremde sind” sagten wir, “im selben Geist.” “…und im selben Dasein”.

Ich drückte die Tür auf und ging hinein. “Fremde im selbem Geist, im selben Dasein, pfff”, wiederholte ich leise, “was für ein Idiot.” Die Tür schloss sich. Die Welt schlief davon.

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