Die alte Finsternis

Die alte Finsternis

Die alte Finsternis lag über der Stadt, dunkel und flauschig wie ein ungereinigter Teppich, Jahrhundertealt und verkommen, so wie die Häuser unter ihm, von insektenhaften Menschen durchzogen, die nichts anderes zu tun hatten, als sich in das Licht zu flüchten, das ihnen die Angst nehmen sollte, ihnen stattdessen jedoch nur noch mehr Furcht erschuf, indem es Schatten an die Wand warf, wo sonst nur Einsamkeit herrschte.

Ich war auf dem Weg zu einer Bar, um eine Frau zu treffen. Die Straßen waren voll von Leuten, die etwas ähnliches vorhatten, mit oder ohne die Hilfe ihres geliebten Alkohols. Es war Samstag und die Welt hatte ihr eigenes kleines Gericht über ihre Köpfe gelegt, Urteil: schuldig. Ich musste mich nicht in die Bar drängen. Es gab genug von ihnen in der Stadt und jede hatte genau dasselbe zu bieten, eine Art Sicherheit, Licht, Wärme, das Gemurmel der anderen, sprich, es war ein Hort, endlich mal der sein zu können, der man immer sein wollte. Wie auch immer, ich starrte auf das Schild über der Bar und dachte daran, wie sie sich mir zu erkennen gedachte: Ich trage eine weiße Rose auf grünem Kleid.

Soso. Ein übliches Treffen an einem üblichen Tag mit üblichen Klamotten. Es war so, als ob sie sich ranwerfen wollte, ein bisschen Spaß an diesem allzu-normalen wochen-endlichen 24h Selbstrotationszyklus, sprich, Tag. Ich folgte nur einem Automatismus. Als die Tür sich nicht öffnen ließ, starrte ich sie lange an, bevor ich bemerkte, dass man an ihr ziehen musste, statt zu drücken, vermutlich eine Hilfestellung für die ganzen Besoffenen.

Der Geruch menschlichen Verfalls überlagerte das scharfe Echo des Ausschanks von Spirituosen und ich musste erst einmal flach atmen, sonst hätte ich mich umdrehen und fliehen müssen. Schweiß lag in der Luft, schlimmer noch, alter Schweiß. Draußen konnte man es mit der Konzentration auf die Abgase der Autos der Abendfahrer versuchen, zu ignorieren, doch aus dieser Arena des gemeinsamen Zerfalls gab es kein Entkommen, das nicht wie Panik aussah.

„Schöner Abend heute“ war ihr Gruß und ich versuchte, das zu verstehen. Was ist an einem Abend… gut? Was ist gut? Was ist heute? Ich lächelte grundlos und versuchte, den Sinn ihrer Ansprache zu erkennen. War das üblich? Gut. Ich murmelte etwas zurück in der Hoffnung, dass sie es verstehen würde. Ihr Grinsen wurde groß, ihre Zähne leider auch.

„Das sind Sie also.“ sagte ich und überprüfte die Formulierung mit meinem Verstand. Höflichkeit an diesem Ort ist meistens unangebracht, aber ich fand, dass man damit spielen konnte, es war eine Saite im Spiel einer zerbrochenen Gitarre. „Sie sind fast so, wie Sie sich beschrieben haben“, war ihre Antwort, ein wenig zu keck, aber noch im Rahmen. Ich nickte. „Ich bin etwas anders als die Bilder. Die sind alt. Ich bin neu.“ Sie griff nach unten und holte eine Handtasche herauf. „Rauchen Sie?“ fragte sie mich. „Nur wenn ich brenne.“ war meine Reaktion. Man muss schon ein wenig lustig sein, wenn man versucht, sozial zu sein. „Gut.“ meinte sie, als ob sie den Scherz nicht verstanden hatte. Ich war geneigt, ihn ihr zu erklären, aber dafür hätte mich ihre Reaktion mehr kümmern müssen, als sie das tat. „Aber der Rest stimmt?“ fragte sie mich, ihre Augen recht belanglos auf mich gerichtet, als wäre ich noch immer an der Tür zur Kneipe, Bar, Restaurant, Abfallgrube, würde warten, dass sie mich empfängt. Sie drehte ihren Kopf zur Seite, eine Art Fragehaltung. „Ja. Ich arbeite in dem Gewerbe seit 25 Jahren. Ich habe vor, in Rente zu gehen, etwas neues zu tun.“ „Neues? Nach all der Zeit? Dass ist eine Herausforderung, die man sich gut überlegen sollte.“ Ich streckte meine Hände aus. „Die zittern noch nicht einmal. Es ist alles möglich, wenn man nur an sich glaubt.“ Genug Spielzeit. „Sie können stolz auf sich sein“ ergänzte ich. „Wieso?“ fragte sie, den Rauch der Zigarette, die sie aus der Tasche gezogen und angezündet hatte, vor ihrem Gesicht, der sie bis zur Unkenntlichkeit verdeckte. „Ich bin immer etwas… zurückhaltend.“ Mein Lächeln konnte sie sicher nicht sehen. „Wir sprechen eine Sprache… wir sind eine Spezies. Wieso sollten wir zurückhaltend sein?“ Spezies. Wieder eines dieser Worte… „Natürlich“ meinte ich, ergänzte aber mit „Dennoch, wie Sie auf mich gekommen sind.“ Ich versuchte, nicht zu enthusiastisch zu klingen. „Ich habe meine Fähigkeiten, Sie haben die Ihren und in einigen Punkten sprechen wir die selben Dinge an, die andere nicht verstehen würden.“ „Wie lang sind Sie schon hier?“ fragte ich. Sie zuckte mit den Schultern. „Die Stadt ist groß, man sein, dass ich noch nicht überall war, aber ich bin lang genug hier, zu wissen, wo man sein sollte und welchen Orten man fernbleiben sollte.“ Ich konnte ein leichtes Lächeln in ihrem Gesicht erahnen. „Es ist gut, wenn man sich so kennenlernt, nicht einfach gegenseitig… überfällt. Es ist nett, es ist nicht so einsam.“ Ich lehnte mich etwas zurück. „Einsamkeit ist eine Einstellungssache. Natürlich, außerhalb der eigenen Leute ist man allein, aber es gibt genug, dem man folgen kann, das einen ablenken kann. Dieser Abend hier… das ist… eine Art“ Ich stoppte. Der Geruch nach verbranntem Filter war nicht zu überriechen. Ich legte meine Hand auf die Ihre, die noch immer die Zigarette hielt, öffnete ihre Finger und ließ den Zigarettenstummel in den Ascher fallen. Sie blickte mich an, eine Mischung aus Verwunderung und Sensation. Mein Seufzen schreckte sie auf. „Also… wie lang?“ fragte ich. „2 Monate“ „und vorher?“ „Lange unterwegs, mal hier, mal da.“ „Aber nicht daran gewöhnt, an das Rauchen und so.“ Ich sah ihre Augen vibrieren, 2 Stück, perfekte Smaragde mit einem schwarzen Punkt in der Mitte. Kamen ihr Tränen? Ich blickte in eine andere Richtung. Sie schniefte etwas. „2 Monate“ murmelte ich vor mich hin. „Hey“ sie legte ihre Hände auf den Tisch, direkt vor sich hin, die Handflächen nach oben gerichtet. Ich nahm sie und drehte sie um. „Das sind wichtige Dinge“ meinte ich, „zu wichtig. 25 Jahre reichen nicht aus. 2 Monate reichen schon gar nicht aus, aber es gibt soviel zu sehen, soviel zu lernen.“ Sie nickte. Eine einzelne Träne kroch aus ihrem rechten Auge, ihr Gesicht in Horror verzogen. „Lassen Sie das“ ergänzte ich, „nicht hier und nicht jetzt. Alles zu seiner Zeit.“ „25 Jahre muss ein Alptraum sein“ murmelte sie, „25 Jahre, tagaus, tagein… und nun, da Sie aufhören, komme ich und lasse zu, dass Sie Angst um mich haben.“

Ich nickte, schüttelte dann den Kopf. Mein Nacken ließ ein leises Knacken entweichen. „Hören Sie das? Das ist das Alter. Die Stadt wirkt sich aus. Daheim wäre das kein Problem, das Alter. Ich würde über die Wiesen wandern, allein und unter leuchtendem Himmel.“ „Ja“ sagte sie. „Die Nacht. Die Finsternis. Dies ist so furchteinflößend. Woher weiß man, dass da nichts lauert. Woher weiß man, dass der Tod nicht auf einen wartet. Ich habe Bilder gesehen…“ sie stoppte.

Wir schwiegen beide. „Wollen Sie wirklich gehen?“ fragte sie. „Wollen Sie wirklich bleiben?“ „Ich bin neugierig“ sagte sie und starrte mit einer gewissen Ungeniertheit auf die Leute, die sie versuchten zu ignorieren, mehr noch, die sie wirklich ignorierten. Es war Samstagabend und was sollte man sonst noch tun, außer in seinen eigenen Gedanken ertrinken… nichts. „War ich auch einmal. 25 Jahre reichen. 788 Millionen Augenblicke, die kommen und vergehen. Ich vermisse die Heimat. Die Stadt hat viel zu bieten, aber ich finde nichts mehr an ihr. Sie sind jung.“ Ich versuchte es noch einmal mit Höflichkeit. Sie reagierte nicht. „Hey“, sagte ich, „Sie müssen lernen, auf Komplimente zu reagieren und das war eins. Jugend ist Hoffnung ist Neugier. Ich bin zu gebunden… Sie sind frei.“

Ich nickte ihr zu. „Es wird Zeit.“ Wir standen gemeinsam auf. Die Leute um uns herum reagierten nicht wirklich. Als die Tür sich vor mir öffnete, blickte mich die Finsternis an, blickte mir tief in meinen Verstand und grinste, ich grinste zurück. „Du wirst es vermissen“ sagte sie, „du wirst mich vermissen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nur ein bisschen“ flüsterte ich. „Was ist los?“ fragte mich die Frau hinter meinem Rücken. „Ich verabschiede mich nur von einem guten Freund“ sagte ich, „wir sehen uns.“ Ich nahm meine ganze Energie zusammen und trat nach vorn. Endlich war ich frei, endlich… frei. Ich blickte mich um, schaute hinunter und sah, wie sie meinen Körper berührte, dort, wo der Hals den Schädel hielt, fühlte ein leichtes Kribbeln in den Erinnerungen meiner Existenz, eine Art Schmerz und konnte sehen, wie mein altes Fleisch zusammenschmolz, sich verwandelte, sich in graufarbene Asche verwandelte und unter dem Wind, den ein vorbeifahrender Bus in die Straße trug, davonsegelte.

Sie blickte mir nach. In 25 Jahren, in 788 Millionen Augenblicken… würde das mit dem Wiedersehen eingehalten werden… wenn sie nur aufhören würde, zu versuchen, eine Zigarette verkehrt herum zu rauchen.

 

Emanuel Mayer
26.10.2013

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